Wenn Netze werken

Der Aufenthalt und die Nutzung sozialer Netzwerke im Web werden immer wichtiger – sowohl auf individueller wie auch auf organisatorischer Ebene. Das passiert nicht zur Zufriedenheit aller. Widerstände und negative Reaktionen auf diese Netzwerke und ihre umfangreichen Potenziale sind keine Seltenheit. Mark Zuckerberg, der Gründer von Facebook, hat vor ein paar Tagen das Ende der digitalen Privatsphäre ausgerufen und das Echo war geteilt. Das ist kaum verwunderlich. Nach einer bizarren Änderung der Nutzungsbedingungen im letzten Jahr hatte gerade Facebook eine sehr fein granulierbare Rechteverwaltung für hochgeladene Inhalte eingeführt. Das macht das ökonomische Nutzen der riesigen „Kundenzahlen“ nicht eben einfacher. Auf der anderen Seite gibt es immer mehr Scam- und Hoax-Gruppen, die nichts anderes tun, als bei den sozialen Netzwerken ihre Werbebotschaften unter das Volk zu bringen.
Eigentlich kommt die Idee hinter diesen Netzwerken aus dem klassischen Verhalten, das wir schon seit Jahrzehnten im Geschäftsverkehr kennen: Endlose Kontaktlisten mit unzähligen Visitenkarten zu erstellen, um die eigenen Interessen mithilfe eben dieser vielen Personen durchzusetzen. Die Visitenkartenschnüffler haben schon früher durch intensive Sammelaktivitäten und aufgeregtes Schleimen von sich reden gemacht.



Was viele bisher nicht verstanden haben: Es geht eben in dieser enorm schnellebigen Zeit nicht mehr darum, einfach endlose Listen von Kontakten zu sammeln, sondern sich genau diejenigen Leute auszusuchen, von denen man aktuell viel lernen kann und mit denen man gemeinsam Probleme lösen kann. Verfügbare und offene Menschen mit den Fähigkeiten, die im Moment substanziell sind für eine Aufgabe, gilt es zu finden und zu binden. Die Kontakte an sich sind nicht besonders wertvoll – es geht um die Teilnahme an bestimmten Informationsumgebungen, Wissensflüssen und Experten-Communities. Die finden aber in den sozialen Netzwerken gar nicht statt. Dort geht es zumeist sehr privat zu. Manche sind sogar überlaufen von freelancern auf der Suche nach Aufträgen.


Mann kann aber in den ganzen Diskussionsforen, Gruppen, Fanseiten und Plattformen gar nicht erkennen, welche Fähigkeiten jemand „mit der Hand am Arm“ – also im Projekt hat. John Hagel III fasst dies darin zusammen, dass er das Dilemma darin sieht, dass man via sozialem Netzwerk gar nicht auf das stille Wissen (tacit knowledge) also das Hintergrundwissen einer Person zugreifen kann, weil es sich eben gerade nicht in Zertifikaten und dem Auflisten von Stufen der beruflichen Laufbahn wiederspiegelt. An derselben Stelle, können unterschiedlich Menschen völlig diametral unterschiedliche Erlebnisse und Erfahrungen mitnehmen und diese wiederum ganz anders später umsetzen.

„weak ties“ können nur durch gemeinsame Erlebnisse fruchtbar werden



Um solche Einschätzungen von Fähigkeiten vorzunehmen, nutzen „weak ties“, also lose Bindungen überhaupt gar nichts, weil man jemanden nur präzise einschätzen kann, wenn man sie oder ihn lange kennt. Große Datenbanken mit umfassenden Tabellen über Menschen helfen dabei wenig.


Ein oft unterschätzter Aspekt ist die eigene Attraktivität. Ist eine Firma oder ein Projekt nicht nur erwünscht sondern erhofft oder gar als Auszeichnung bewertbar, dann leisten die Menschen ganz anders. Da helfen auch finanzielle Anreize wenig. Viele verstehen deshalb auch nicht, warum die – in qualitativer Hinsicht nicht immer überzeugenden, aber immer sehr teuren – Produkte von Apple einen reißenden Absatz finden. Sie sind einfach sehr attraktiv.
Wenn man das falsch versteht, dann wird Netzwerken zu einem schleimenden Manipulieren von künstlichen menschenähnlichen Profilneurotikern. Denn wenn der attraktiven Fassade keine attraktive Substanz entspricht, entsteht Wut, weil man den Betrug – und dadurch eine persönliche Beleidigung – spürt.


Aber es ist genau der andere Ansatz, der sowohl Apple (zumindest in Teilen) als auch den erfolgreichen Netzwerkern zum Erfolg verhilft: Es geht um das neugierige Herantasten an die Bedürfnisse des Gegenübers. Wie aber erfährt man die wirklich wichtigen, oft verletzlichen Schwachstellen einer Person? Es ist einfach, aber für moderne karrierebewußte Menschen fast unmöglich: Man muss sich selbst als halbgar, als unfertig, als verbesserbar darstellen und eigene Schwächen offen darlegen. Nur so ermöglicht man es dem Anderen sich auch in seiner ganzen Breite zu öffnen. Nur wer verletzlich ist, ist attraktiv für andere Verletzliche. Und auf dieser Basis kann ein offener Dialog über die klaren Anforderungen in einer gemeinsamen Kooperation entstehen. Das ist Netzwerken im postheroischen Zeitalter. Leider verstehen manche diese Offenheit als Dummheit und dreschen ihre Performance-Phrasen.


Wenn man aber erst einmal gemeinsamen Grund gefunden hat im Unperfekten und Verbesserungswürdigen, dann kann man gemeinsam die Stärken bündeln, und diese Schwächen angehen. Eine bessere Ist-Analyse als der neugierige und offene Umgang mit anderen ist kaum denkbar und zugleich die beste Basis für fundamentale Besserung. Denn wer sein Hintergrundwissen nicht genau kennt – und das trifft auf uns alle zu – der ist erst bei einer offenen Schilderung der Lage dazu imstande, seine Fähigkeiten und sein Wissen in praktischer oder theoretischer Hilfe einzusetzen. So funktioniert auch gutes Selbstmanagement.


So ganz nebenbei finden so auch fruchtbare Beziehungen statt, weil auf dieser offenen Basis auch Vertrauen entstehen kann. So eine Kooperation, die mit einer konstruktiven Arbeit auf der Basis eines offenen Umgangs realisiert wird, bindet die losen Enden von Personen anhand von gemeinsamen Erfahrungen zu einem echten Netzwerk, dass intuitiv sich immer an denjenigen wendet, der in bestimmten vergleichbaren Situationen die Sache zum besseren wendet. Diese Offenheit und Neugier ist ein soziales Netzwerk, das ohne Strom und touchscreen enorme Erfolge zeitigt. Und Facebook, Xing und Konsorten können das bleiben was sie sind: Gestelle die diese Qualitäten aufnehmen können, aber nicht hervorrufen.
Bildnachweis: Clara Natoli

  ist seit 1999 als Freier Autor und Freier Journalist tätig für nationale und internationale Zeitungen und Magazine, Online-Publikationen sowie Radio- und TV-Sender. (Redaktionsleiter Netzpiloten.de von 2009 bis 2012)


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5 comments

  1. Wahre Gedanken. Gute Einschätzung. Hat sich doch gelohnt, dass ich den Feed seit gestern in meinen Google Reader integriert habe! :-)

  2. Es stimmt natürlich, dass man in Online-Netzwerken wie Facebook und anderen seine „weak ties“ nicht nutzt, um „tacit knowledge“ mit anderen auszutauschen.

    Online-Netzwerke sind jedoch zum einen Umgebungen, in der man seine „weak ties“ über einen langen Zeitraum mit sehr geringen Kosten aufrecht erhalten kann, zum Anderen fließen über soziale Beziehungen in Online-Netzwerken andere Formen von „tacit knowledge“, die nicht zu unterschätzen sind. Wenn ich zum Beispiel weiß, in welcher Stimmung sich ein Freund/Kollege/Bekannter befindet, weiß ich, ob und in welcher Form ich Kontakt mit ihm aufnehmen kann, die Nutzung der sozialen Beziehungen wird also effektiver, weil man nicht in Fettnäpfchen tritt.

    Außerdem teilen einem die Kontakte in solchen Netzwerken meistens mit, woran sie gerade arbeiten, wo sie gerade sind, oder wonach sie suchen. Dieses Wissen kann man z.B. nutzen, um zu helfen oder um zu fragen, ob sich da nicht in einem Bereich von gemeinsamen Interesse Möglichkeiten der Zusammenarbeit ergeben.

    Das ist im Übrigen einer der Gründe, warum ich Twitter gut mag: Viele Nutzer, denen ich dort folge, teilen sowohl mit, woran sie gerade arbeiten, aber mixen auch immer wieder Tweets mit privatem Charakter, durch die man die vorherigen Informationen in einen sozialen Kontext einordnen kann. Wenn man dann zum richtigen Zeitpunkt eine Frage stellt, bekommt man unter Umständen Informationen, die man ansonsten nicht erhalten würde.

    Zusammengefasst würde ich sagen, dass das Problem des Artikels ist, dass er „tacit knowledge“ zu eng fasst und dadurch Phänomene des Wissensaustausch außen vor lässt, die sehr wohl relevant für die Zusammenarbeit von Menschen im privaten wie im beruflichen Kontext sind.

    1. Es ging ja bisher darum, dass man seine „weak ties“ dort stärken kann, was ich nach wie vor bezweifle. Es gibt wenig Mißverständnisse zum wissenschaftlichen Begriff des „tacit knowledge“ nach Mihaly Polanyi und Gilbert Ryle. Wissen ist ein sehr individueller Zustand. Folglich kann man ihn auch nicht tauschen, was sollte man denn bei diesem Tausch erhalten? Anderes Wissen? Ich kenne diese vielen pseudowissenschaftlichen Arbeiten zum Wissensmanagement seit den frühen Neunziger Jahren. Wenige reflektieren die große theoretische und praktische Leere zum Wissensbegriff und pflanzen ihn einfach der Informationstheorie auf. Aber in Bezug auf twitter gebe ich Dir Recht, es ist ein sehr transparentes Tool, wenn es offene Menschen nutzen. Aber genau das war ja mein Ansatz: Nicht die Netze werken sondern die Menschen. Die Kontaktlisten allein bewirken nichts.

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