Vor einem Vierteljahr hat der FAZ-Autor Jauer begonnen, einen Artikel über lächerliche deutsche Blogger zu schreiben. Rechtzeitig zur re:publica10 Mitte April war er dann in Print und online zu lesen. Dass es dort mit der Wahrheit oder der Würde der dargestellten Personen nicht so klappte, mag viele Gründe haben. Vielleicht war es einfach nur Gehorsam gegenüber dem Ressortchef und Herausgeber, dessen aktuelles Buch mysteriöse Verschwörungstheorien über die Auswirkungen von Algorithmen und Computerprognosen verbreitet, über die besagte Blogger öffentlich herzogen. Aber wahrscheinlich sitzt der Stachel sehr viel tiefer.
Roger de Weck warf Schirrmacher ja vor einem guten halben Jahr in den Sternstunden des SF schon vor, dass die FAZ eine enorme Boulevardisierung durchmache. (Das Interview ist übrigens ein herausragendes Dokument über die Argumentationskraft von Schirrmacher) Ich finde es keineswegs verwunderlich, dass bei den Qualitätsmedien die hehren Grundsätze des Journalismus mit Füßen getreten werden. Wer sonst hätte schuld an dem rasenden Untergang einer Branche, die Jahrzehnte über die Gewinnmargen von Autoindustrie und Maschinenbau lächeln konnte. Es müssen doch die Journalisten schuld sein. Wieso sonst werden sie in Heerscharen entlassen und durch freies, günstiges, willfähriges Kanonenfutter aus den überlaufenen Journalistenschulen aufgefüllt.
(Geduld – vor allem ab Minute 20 wird es spannend.)
Aber was kommt nun?
Dankenswerterweise hat Markus Beckedahl seine ehemalige Bloggerkonferenz auf ein neues Niveau gehievt, das genau die neuen Wege des Publizierens von Inhalten sehr umfassend und profund aufzeigte für all diejenigen, die gekommen waren. Die zweite Aufklärung ist in vollem Gang, langsam aber stetig entwickelt das Web eine neue globale Gesellschaft weiter. Offenbar werden einige ausgeschlossen oder schließen sich selber aus. Marcus Jauer weilte gerade in Nepal, deshalb konnte er die Zukunft der vierten Gewalt (heute noch Presse) und den Aufstieg der fünften Gewalt (David Sasaki von globalvoices.org über Social Media) nicht beobachten. Denn außerhalb von unserem qualitätsmedial eng umzäunten Wegen hat die Welt gerade entdeckt, dass man mit Echtzeit-Warnsystemen wie ushahidi ein kaum vorstellbares Potenzial heben kann. Haben früher noch Afrikaner dieses Portal genutzt, um per SMS auf lokale Gewalttaten der Obrigkeit oder Gewalt gegen Frauen in Echtzeit hinzuweisen, ist das System spätestens seit dem Desaster von Haiti als Übersicht für Katastrophenhilfe unabdingbar. Denn dort haben die Hilfesuchenden direkt per SMS gezeigt, welche Hilfe wo gebraucht wurde. Und noch viele andere internationale Gäste aus über 30 Ländern hatten in Berlin die Chance ergriffen, uns rückständigen Netznutzern zu zeigen, wie digitaler Aktivismus helfen kann Gesellschaften zu emanzipieren – sei es in Indien, Afrika, Lateinamerika oder in Osteuropa. Und mit Evgeny Morozov war sogar jemand da, der nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion als Direktor einer NGO erlebte, wie man mit neuen Medien den zersplitternden Gesellschaften zu einer Stimme verhilft, die jeder ergreifen kann. Er hat in seinem viel beachteten Vortrag allerdings auch klar gemacht, dass in Russland bereits viele Blogs unterwandert werden von offiziellen Stellen. Sodass die erwünschten Meinungen in den Bürgermedien erscheinen – so wie wir das von unseren parteinahen Medien und Institutionen auch kennen.
War in den früheren Jahren noch ein Braten im eigenen Saft zu verzeichnen, wo ganz nach Jauerscher Manier Personen angegriffen wurden, statt Themen und Prozesse zu diskutieren, war es dieses Jahr ein anderer Wind, der durch die enorm gewachsene Konferenz wehte. Denn im Friedrichstadtpalast, der Kalkscheune und dem Quatsch Comedy Club gaben sich kritische und skeptische Menschen gegenseitig die Mikrofone in die Hand. Nur das es diesmal Leute waren, die wussten, dass es nicht mehr reicht, einfach nur zu kommunizieren und zu kommentieren. Man konnte in vielen Augen lesen, dass der neue Wind aus der Richtung kam, die der Outreach Director von globalvoices.org David Sasaki in einem Satz zusammenfasst: “Not issues but processes.“
Wer ein Beispiel dafür braucht, dass unseren Schulen sofort helfen würde ohne auf die langjährigen inhaltslosen Mantras der Regierung zu warten, der möge sich hier umsehen – ausgerechnet ein amerikanisches Beispiel, wie aus brennenden Themen Prozesse werden. Leider eignen sich dafür nur social media, da die überkommenen Medien seltsame intransparente Initiativen wie ein „Herz für Kinder“ hinbekommen, wo keiner weiß, wer wann wieviel wofür bekommt. Die tradierten Medien sind nämlich nicht selten Teil des Problems Intransparenz.
Nicht mehr Themen stehen im Vordergrund, sondern die Prozesse, die sie anstoßen. Im Interview erklärte Sasaki gegenüber den Netzpiloten, dass wir am Anfang einer Entwicklung seien, die in der Emanzipationstradition steht, die schon mittels des Buchdrucks die Macht des Vatikans zum Einsturz brachte. Es wird dauern, aber die Kontrolle der Demokratie durch die Bürger mittels der neuen Medien wird die Macht der Presse enorm relativieren. Vielleicht spüren das die ehemaligen Hohepriester der Realitätsdeutung in den Verlagsstuben und schicken genau deswegen den Jockel aus, das Fürchten zu lehren.
Fazit
Was seltsam ist: Prof. Kruse spricht von einem Kulturraum, wenn er das Netz beschreibt. Aus meiner Sicht ist es deutlich näher an einem Werkzeug oder präziser ein Werkzeugkoffer, den man nutzen kann. Wir müssen uns bewusst werden, dass globale Kommunikation im Netz den Begriff unserer lokalen Traditionen und Kulturen und die damit zusammenhängenden Aktionen relativiert. Insofern greifen die stupiden Vorwürfe der alten Publikationswelt nicht nur zu kurz sondern enthüllen das Unvermögen, sich auf etwas zuzubewegen, das sich im Wandel befindet. Wir können eigentlich nur lernen, wie andere das Web für sich nutzen. Pambazuka News hat seinerzeit mittels SMS die Wähler befragt, was sie wirklich gewählt haben und dann verglichen mit den jeweiligen Auszählungsergebnissen der Wahllokale. Das haben sogar die Amis von den Afrikanern übernommen, weil sie so etwas wie in Florida bei der vorletzten Wahl absolut ausschließen wollten. Wer stellt sich also hin und bezweifelt begründet die demokratische Potenz. Und das Komplexität mit und ohne Web ein Synonym der Experten für Ich-weiß-nicht-mehr-weiter ist, hat nichts mit der digitalen Revolution zu tun.
Jacques Lacan hat der Psychoanalyse des 20. Jahrhunderts das Spiegelstadium geschenkt. Freud war zu seiner Zeit noch nicht klar, dass der Mensch sich selbst eigentlich vornehmlich über den anderen erfährt. Im Web gibt es sehr viel anderes und Andere. Es ist eine Chance, dadurch viel über sich und über uns zu erfahren. Die Xenophobie, also die Angst vor dem Anderen, Fremden ist zuallerlerst das verdeckte Wissen um das eigene Böse, das man dem Anderen aufprojeziert und hofft, es so los zu werden. Wer auf der republica10 war, wer viel im Netz international unterwegs ist und nicht nur auf den zwei Lieblingsblogs, der wird sich selbst entdecken und standhalten können, weil er soviele Facetten erleben kann. Vielseitige Differenz ist die reife Form der Komplexität. Es ist kein Kulturraum, es sind wir selbst, die es zu entdecken gilt.
Bildnachweis: Jörg Wittkewitz
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Schlagwörter: EVENT, konferenz, republica
7 comments
Liest sich wie „Von denen, die auszogen, der FAZ das Fürchten zu lehren“. Wichtig ist es, sich durch die Angriffe der klassischen Medien nicht von der eigenen Linie abbringen zu lassen. Für die These „Prozesse statt Themen“ hätte ich gerne noch ein paar Argumente oder Links zu entsprechenen Vorträgen.
In loser Folge werden wir hier unsere Interviews mit einigen Vortragenden publizieren. Dann gab es noch den herausragenden Livestream von drei Bühnen (leider mit den nervigen amateur-gate-einstellungen der lokalen Tontechniker), der sicher bald online als Archiv zugänglich sein wird. Dann Nishant Shan, Morozov, Sasaki, Lovink, und die afrikanischen Gäste einfach selber anhören und staunen ob des Levels auf dem gesprochen und gehandelt wird.