„Wenn man dem spanischen Stier seine Weide nimmt, wird aus dem gutmütigen Tier ein tobender Teufel und die Erde bebt“, hatte der Spanische Maler Francisco Goya einmal über seine Landsleute gesagt. Es war in der Zeit der französischen Revolution.
Madrid, Cádiz, Málaga, Mitte Mai 2011: Trotz Sonne keine Strandparty: Landesweit demonstrieren Spanier aus allen Bevölkerungsschichten, Akademiker, Bauarbeiter, Studenten, Rentner, Arbeitslose für einen Politik- und Strukturwandel. Zum den Kundgebungen hatte u. a. die Bürgerrechts – Organisation „Democracia Real YA!“ (= „Echte Demokratie JETZT!“), welche ihre Aktivitäten und Nachrichten, wie viele ähnliche Organisationen auch, stets über Facebook mitteilt…
„Wählen Sie nicht!“
Sieben Tage vor den Wahlen demonstrierten an diesem Sonntag Nachmittag jeweils tausende von Menschen in 50 Städten Spaniens, um einen sozialen und politischen Wandel zu fordern. „Wählen sie nicht“, war der beliebteste Spruch den die Menge skalierte. Der Unmut der Bevölkerung wächst: Über die erfolglose Arbeitsmarktpolitik des amtierenden Ministerpräsidenten José Luís Zapatero von den regierenden Sozialisten, der PSOE, aber auch die immer neuen Maßregelungen durch die EU und jüngst auch aus Berlin. Und die Opposition, angeführt von Mariano Rajoy von der konservativen Partido Popular (PP) bedeutet den Meisten auch keine Alternative: „Eine neue Regierung spricht dieselben Worte, da ändern sich nur die Namen“, echauffiert sich eine Protestantin aus Madrid vor laufenden Kameras.
20% Arbeitslose
Es scheint, dass der Wutbürger kein ausschließlich schwäbisches, sondern ein gesamteuropäisches Politikum wird, wenn wir dieser Tage auf die Straßen Madrids, aber auch Athens, Lissabons und Dublins schauen. Aber bleiben wir in Spanien, der neben Italien größten südeuropäischen Volkswirtschaft. Das gegenwärtige Hauptproblem hier ist die galoppierende Zahl der Arbeitslosen: Derzeit meldet das spanische Ministerium für Arbeit und Wirtschaft 20% offiziell registrierte Arbeitslose landesweit, Allein in der andalusischen Provinz Cádiz beträgt der – offizielle – Stand der Arbeitslosen nach Informationen der Tageszeitung „La Voz“ derzeit knapp 30%, wobei die Gemeinden der Sierra von Cádiz wie Arcos de la Frontera, Ubrique oder Grazalema am Schlimmsten betroffen sind: „Arcos war das Zentrum der hiesigen Bauindustrie und bislang eine der reichsten Gemeinden – jetzt führen wir mit über 30% die Liste der Arbeitslosen an,“ klagt Juan Mari, 47, ein Maurermeister aus Arcos.“
Nicht nur in Cádiz, in ganz Spanien ist der Bausektor am Stärksten von der Wirtschaftskrise betroffen. Danach folgen Dienstleistung und Schwerindustrie. Dabei sind die südlichen Provinzen Spaniens im nationalen Vergleich am Stärksten beeinträchtigt. Dass Angela Merkel nun aus Berlin eine Volte in die südeuropäischen Länder schickt, klingt für die meisten Spanier wie eine Ohrfeige. Noch vor wenigen Wochen galt die Bundeskanzlerin als integre und verantwortungsvolle Führungspersönlichkeit innerhalb der EU, die sowohl von Medien als auch auch weiten Teilen der spanischen Bürger mit mehr Lorbeeren bedacht wurde, als die heimischen Politiker: „Deutschland – Musterland“, „Bravo, Angela“ oder „Beispielhaftes Berlin“ titelten die Tageszeitungen unterschiedlicher Städte und politischer Lager. Angela Merkel wurde beinahe göttlich – ergeben auf den medialen Olymp gehoben. Doch nach den letzten Forderungen Richtung Südeuropa angesichts der EU – Finanzkrise begann die Götterdämmerung. Mit dem Lob ist es spätestens seit heute, seit die unterschwellige Botschaft vom „gemütlichen, feierfreudigen und sonnenverwöhnten Südeuropäer die Runde durch Spaniens Medien macht, vorbei:
Angela Merkel in Spaniens Medien: Vom Ruhm zum Hohn
„Was bildet sich Frau Merkel eigentlich ein? Sie spricht über unser Land, als wären wir Menschen schuld an der Krise! Wer hat denn die Gelder verzockt? Die Banken, die EU und die Politik!“, ereifert sich ein Rubén Lopez, 52 Jahre alt, ein Lehrer aus Cádiz in der Altstadt – Buchhandlung „La Clandestina“. „Dann soll doch die Deutsche Bank den Mist bezahlen, den sie verbockt hat!“, so Lopez weiter. „Frankfurts Finanzhaie zertrampeln unsere Arbeit, die Arbeit, die vorher gut war und jetzt über Nacht schlecht sein soll, weil das Geld für weitere Champagnerparties auf deren Luxusyachten fehlt? Früher haben wir solche Leute in Schweinejauche ertränkt!“, schäumt ein anderer Kunde der Buchhandlung… Das sind harte – und neue – Worte:
Wer die spanische Mentalität kennt, weiß, dass der Spanier eine Menge erträgt, Jammern gehört sich nicht, der sprichwörtliche Stolz verbietet die Äußerung von Unbehagen bis hin zur Selbstverleugnung. Eher wundern sich die Spanier über die stets murrenden und unkenden Deutschen. Und nun mischen grad die, denen es aus spanischer Sicht weit besser geht, in deren Mentalität ein? Dabei sind es gerade die aus deutschen Arbeitsagenturen nach Spanien vermittelten Fachkräfte, die vor wenigen Jahren auf den boomenden spanischen Markt strömten, um im Süden eine neue Existenz aufzubauen – und nach wenigen Monaten enttäuscht und ausgebrannt in die Heimat zurückströmten:
„Mit den vermittelten deutschen Angestellten hatten wir keine guten Erfahrungen“, klagt Àlvaro de las Casas, Hoteldirektor eines Golfresorts bei Málaga,“immer am Jammern, am Fordern, zu faul, zu langsam, kaum der Sprache mächtig und vor allem keine guten Manieren!“. „Wir nehmen gerne Fachkräfte aus Polen, Irland, Marokko, Tschechien“, erklärt die Pressesprecherin des Tourismusverbandes Cádiz: „Personal aus den genannten Ländern ist in der Regel fleißig, gut ausgebildet, sprachgewandt und belastbar. Unter den Touristen haben wir mit den Deutschen aber gute Erfahrungen.“ Sehr diplomatisch verpackt, aber die Botschaft ist angekommen. Was war da los?
„Arbeiten, wo Andere Urlaub machen…“
Zwischen 2002 und 2008, den letzten Boomjahren Spaniens, strömten viele Arbeitssuchende aus Deutschland in die Touristenzentren der iberischen Halbinsel. Gerade im Bau – und Tourismussektor vermittelten die Arbeitsagenturen mit extra für Spanien eingerichteten Abteilungen. „Arbeiten unter Spaniens Sonne“ lautete das etwas romantisch verbrämte Motto, das die neue Existenz im Süden versprach. Doch nach der Ankunft auf mediterranem Boden folgte bald die Ernüchterung: „Ich dachte, hier wäre alles so billig, doch für ein kleines WG – Zimmer zahle ich soviel wie für meine Wohnung in Tempelhof!“, klagt Jana Weber, 28 – jährige Tourismus – Managerin aus Berlin. „Da gab’s kaum Freizeit, keine Zulagen und rund um die Uhr Geacker“, ergänzt ihre Kollegin Eva – Marie Giesecke, 25, aus Hannover. Beide kehrten, wie viele andere, nach knapp 4 Monaten Arbeit an der Costa del Sol in ihre Heimat zurück. „Da gibt’s wenigstens Geld, wenn man mal eine Auszeit will.“ Den Strand, so bemängelten beide weiter, hätten sie in der harten Zeit Spaniens kaum gesehen. Dabei war dieser Wunsch ein wichtiges Motiv. Aber „immerhin seien die Spanier sehr viel nettere Kollegen gewesen.“ Na, das ist doch was. Aber trotz aller Sympathie war der iberische Arbeitsmix aus mehr Arbeit, weniger Geld und weniger Absicherung dann doch auf Dauer wenig attraktiv.
Kurzum: Wenn in Spanien mehr Leistung für weniger Lohn umgesetzt wird, kann zumindest der spanische Arbeitnehmer wenig Schuld an der Finanzmisere seines Landes haben. Sollten sich die europäischen Rahmenbedingungen also tatsächlich angleichen, so würde dies für Deutschlands Arbeitnehmer, die ohnehin seit Jahren kaum eine Lohnsteigerung genießen durften, ein böses Erwachen geben.
Zu den wichtigsten Fakten:
Angela Merkel fordert, auch das nichts Neues, eine Erhöhung des Eintritts in das Rentenalter für Spanien mit der Begründung, dass es „ungerecht wäre, wenn wenige Vieles leisten und einige mehr wenig. Solidarität sei eine gesamteuropäische Aufgabe, nicht nur die eingeleisige Hilfestellung aus Berlin.“ Natürlich wirbt die Kanzlerin mit diesen Sprüchen vor allem für ihre eigene Klientel, zeigt wieder Flagge auf der Kapitänsbrücke. Aber nehmen wir Frau Merkel doch mal beim Wort mit der Anpassung auf ein europäisches Niveau:
Manchester – Kapitalismus statt Hängematte
Spaniens größte Industriesektoren, Bau, Tourismus, Dienstleistung bieten nirgends Tarifverträge von 40h/Woche, eher sind 50h und mehr üblich, dazu Wochenendarbeit, Nachtschichten, Doppelschichten, gerade in Bau und Tourismus. Zumeist werden nur saisonale Verträge in den Sommermonaten – wo andere aus anderen Ländern Urlaub an Spaniens Küsten machen – vergeben, Übernahme im Folgejahr fraglich. Das Geld der Sommermonate muß also für eine Familie auch im Winter reichen. Ein Chefrezeptionist in einem Vier – Sterne Hotel in Andalusien verdient bei einer Arbeitszeit von 50 – 60 Wochenstunden zwischen 1.100,- € bis – 1250,- €. 16h – Schichten während der Sommermonate, eher die Regel, als die Ausnahme, ob in den Hotels oder in den Restaurants. Kein Wochenendzuschlag, kein Nachtzuschlag. Kellner, Zimmermädchen, Köche kratzen nicht einmal an der 1000,- € Euro – Marke. Dazu kostet die Miete für eine ganz normale 2- Zimmer – Wohnung von 60 qm in der spanischen Provinz 500 – 700,- €. In den Großstädten Barcelona oder Madrid kriegt man für das gleiche Geld kaum ein WG – Zimmer. Alles über 2 – Zimmern kostet pro Monat ab 1000,- € aufwärts. In den Ferienorten der Küste werden – auch und gerade für Spanier – schon eher 2.000,-€ – 3.000,- € in den Sommermonaten verlangt. Die Lebensmittelpreise sind mittlerweile teurer als in Deutschland, wer guten spanischen Rioja kaufen will, sollte das lieber in einem Discounter in Westfalen tun, als in der gleichnamigen spanischen Provinz selbst.
Wie das gehen soll? Na, es geht eben nicht, außer man wohnt mit 40 Jahren noch bei den Eltern auf dichtem Raum, verzichtet auf Kinder, Urlaub, Auto, Kleidung, kurz alles, außer Miete. In den Bars rund um die zentralen Plätze der Altstadt von Cádiz tummeln sich heute Briten, Skandinavier, Russen,Deutsche – aber kaum Spanier. „Zu teuer!“, seufzt eine Ärztin in der besagten Buchhandlung „La Clandestina“. Ja, auch Akademiker verdienen, wenn sie überhaupt eine Arbeit in ihrer Studienrichtung finden, wenig mehr als Fachangestellte. Außer, man bekommt eine Stelle als Beamter, dann befinden wir uns langsam auf vergleichbaren deutschen Lohnniveau. Aber der aufgeblähte Beamtenapparat Spaniens ist wenig durchlässig und nimmt kaum neue Bewerber auf. Der Wasserkopf ernährt sich von den wenigen verbliebenen Steuerzahlern. Auch diese neue EU – Nomenklatura bildet ein Ziel der Sonntagsdemonstrationen: „Ich bin faul, ich habe ein Parteibuch, ich habe keine Ahnung – ich möchte endlich meinen Beamtensessel“ – höhnt ein Transparent im Demonstrationszug.
Um nach all den Worten harte Zahlen der spanischen Arbeitsagentur zu nennen:
Von 22 Millionen erwerbsfähigen Spaniern sind im Mai 2011 offiziell 4,9 Millionen arbeitslos gemeldet – Studenten, Tagelöhner + Saisonarbeiter nicht eingerechnet. Dem stehen satte 4,8 Millionen Beamte landesweit gegenüber. 12 Millionen erwirtschaften also das Bruttosozialprodukt für ein Land von 42 Millionen Einwohnern. Das so etwas nicht funktionieren kann, mag jeder Grundschüler errechnen.
Doch weiter zum europäischen Solidaritätsprinzip, denn es gilt ja, Kosten zu vermeiden:
Bankenmusterland
Die Bundeskanzlerin fordert einen Anstieg des Rentenalters von 67 Jahren. So lange dürfen spanische Erwerbstätige Steuern zahlen. Gut. Vielleicht sollten dann aber auch die deutschen Erwerbstätigen kostendämpfend von weiteren Prinzipien des spanischen Arbeitsrecht Gebrauch machen:
Es gibt – grundsätzlich – kein Alg II oder Alg I ! In Spanien bekommt nur Anrecht auf eine – weit geringere – monatliche Unterstützung, wer nach wenigstens 2 Jahren regelmäßiger Arbeit arbeitslos wird. Für Saisonarbeiter – die größte Arbeitnehmergruppe im Bau – und Dienstleistungssektor – werden nach 6 – Monats – Verträgen für maximal 3 – 6 Monate geringe Unterstützungen angeboten. Danach ist Schluß. Aus, Nada, Vorbei. Keine bezahlten Umschulungen, keine Sozialhilfe, nichts!
Mutterschutz? Die ersten 3 Monate nach der Geburt. Unbezahlt natürlich. Ehegattensplitting? Dafür gibt es nicht einmal eine äquivalente Vokabel. Kindergartenplätze? Ja, für 100 Euro am Tag pro Kind, falls man das Glück hat, in der Nähe eines privaten Kindergartens zu wohnen und über ein Erbe aus maurischen Zeiten verfügt. Mehr als 3 Wochen Urlaub im Jahr? Krankheitsgeld? Wegegeld? Vielleicht auch noch bezahlte Sitzungen beim Frisör? Wo kommen Sie denn her? Aus einem Märchen wie 1001 Nacht? Ach so, aus Deutschland, ja, gut.Man spürt förmlich, wie sehr sich Eltern zwischen Prenzlauer Berg und Böblingen solch ein südeuropäisches Hängematten, Faulenzer-und Familienpaket herbei wünschen. Nein, Frau Merkel, sie haben recht, so geht es wirklich nicht in Spanien weiter. Aber erklären Sie das unseren Zeitungslesern bitte richtig!
Keine dauerhaften Arbeitsverträge, keine Manteltarifverträge und die genannten 50h und mehr Stunden pro Woche. Das wäre doch ein schickes Programm für die nächste Bundestagswahl, für alle Parteien, die dem Gang des ehemaligen FDP – Vorsitzenden folgen möchten. Falls dieses in Spanien übliche Horrorszenario auch in Deutschland Wirklichkeit werden sollte – und der Ton Frau Merkels summt schon die Todesmelodie des Ackermann’schen Fallbeils – dann hätten wir endlich den konjunkturellen Traum der europäischen Solidarität erreicht. Oder?
Die Bundeskanzlerin hat quasi über Nacht ihren guten Ruf in Spanien ruiniert. Aber es wäre falsch, alles den Verlautungen aus Berlin anzulasten, schon vorher rumorte es in Spaniens Städten. Die Grenze der Geduld ist mit den seit zwei Jahren andauernden Belastungen, Einschnitten in die öffentlichen Kassen und keinerlei Aussicht auf Verbesserung des Arbeitsmarktes erreicht. Aber was ist genau passiert? Werfen wir einen Blick zurück:
Vom Hafen zur Strandbar: Strukturwandel ohne Strukturen.
Der Niedergang der spanischen Industrie nach Francos Tod begann signifikant mit dem Abbau der spanischen Schiffs – und Werftindustrie: Die meisten spanischen Großstädte, mit Ausnahme Madrids sind und waren Küstenstädte. Spaniens Aufstieg begann mit der Eroberung der Weltmeere und der nachfolgenden Ausbeutung gewonnener Kolonien. Schiffbau, Werften und Transport bildeten die ökonomische Lebensader und das urbane Leben, Forschung, Verwaltung und Finanzen entwickelten sich um die Häfen herum.
Auch nach dem Verlust des Kolonialreiches floß immer noch genug Kapital in die Häfen, Exporte – und Importe nach Lateinamerika, Afrika und auf die Kanaren oder Balearen mit Gütern wie Kaffee, Kakao, Tabak , Kautschuk, Obst etc. beförderten nach wie vor einen großen Teil des erwirtschafteten Kapitals in die Staatskassen und gaben in den Hafenstädgten neun von zehn Menschen Arbeit. Ab 1994 beschloß die EU unter Kommissar Fischler die Schließung vieler spanischer Häfen, um Europas Hafenwirtschaft insgesamt zu konzentrieren und auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähiger zu gestalten. Im Klartext hieß das: Subventionierung nur noch für die größten und wichtigsten Häfen: Rotterdam, Hamburg, London, Barcelona, Bilbao,Vigo, Lissabon etc. Mittlere Häfen wie Málaga, Valencia, Gijón, aber auch bedeutendere Häfen wie Cádiz, Bremen oder Antwerpen verloren in wenigen Jahren 80% bis nahezu 100% ihrer Wirtschaftsleistung – sie durften schlichtweg nicht mehr operieren. „Zu unlukrativ“, so Brüssel. Alleine in Cádiz schlossen mit dem Wegfall der großen Werften und Hafenindustrien und Lagerhallen 14 von ehemals 17 lateinamerikanischen Konsulaten. „Zu unbedeutend“, so das diplomatische Corps von Arentinien bis Honduras. Trotz monatelanger, teils sehr blutiger und brutal verlaufener Werftarbeiteraufstände, bei der 1995 Fallschirmjäger aus Madrid gegen die wütenden Demonstranten eingesetzt wurden, Wohnungen plombiert wurden, da die revoltierenden Arbeiter zuvor die Parteizentrale der örtlichen Sozialisten, aber auch die Verbindungsbrücke von Cádiz zum spanischen Festland in Brand steckten, wurde ausgerechnet unter Spaniens bis dato beliebten MP Felipe González die Forderungen Brüssels zu Lasten der Binnenwirtschaft umgesetzt. Cádiz mit seinem Naturhafen du dem ehemals größten Südamerikahafen Spaniens hat sich seitdem nicht mehr erholt. Aber auch vielen anderen Hafenstädten Spaniens erging es ähnlich.
Sozialisten und Konservative nach v. Clausewitz: „Getrennt marschieren, vereint schlagen“
Was der Eine nicht sieht, muß der andere nicht hören: Die Sozialisten wurden prompt abgewählt, danach folgte die 8-jährige Regierung der Konservativen Partido Popular unter Ministerpräsiden José Maria Aznar, der das Land noch weiter nach Europa öffnete, voll auf Dienstsleistung und Tourismus setzte und die gebeutelten Häfen nach Süden komplett abschottete und nach Norden öffnete, getreu dem Motto: Kein Handel mit dem Süden, aber Badefreuden für den Norden!“ Dieser Diktion folgend, wurden Felseninseln in der Meerenge von Gibraltar mit Marokko militärisch ausgefochten, Fischereikriege mit Marokko begonnen, hohe Zäune gegen Immigranten aus Marokko aufgestellt und gleichzietig die Naturstrände der Costa de la Luz dem Tourismus geöffnet. Schön. Bausünden wie an der Costa del Sol hatten die Baugruppen weitgehend vermieden, aber eine Zunahme von über 400% Badegästen pro Jahr zwischen den Jahren 1999 – 2008 bedeutet immer einen Einschnitt in die Umwelt. 2002 kam der Euro in Spaniens Kassen und der Peseta war passé. Mit dem Euro und dem subventionierten Tourismus boomte das Bauwesen, auch im privaten Immobiliensektor: Häuser, die 1999 noch für umgerechnet 30.000 € erworben werden konnten, kosteten im Jahre 2004, gerade 5 Jahre später, bereits 500.000 Euro (!). Eine derart eklatante Immobilienpreissteigerung hat es EU – weit nur noch in Irland gegeben. Die spanische Politik wurde mit Zuwendungen und Subventionen für die eingehaltenen Kriterien, unter anderem die Schließung der Häfen, nachhaltig belohnt; der Zuwachs im Bau- und Dienstleistungssektor und im Tourismus schienen in diesen Jahren die verdienten Meriten für zuvor ausgestandenen Pleitejahre.
Die Kreditblase
Gleichzeitig vergaben die Banken günstige Kredite für Bauvorhaben und Wohnungseigentum. Doch der Lohnzuwachs blieb aus: Schon in der Prä – Euro – Ära verdiente der Spanier mit dem Peseten umgerechnet genauso viel. Aber die Privatkredite „halfen“: Spaniens Haushälte gerieten in die Schuldenfalle, doch „eines Tages“ würde man diese Last, bei irgendwann steigenden Löhnen, endlich abzahlen können. Doch es kam anders: Die Finanzkrise 2008 zerriß das lose Band von Bank und Bürger: Kredite sollten sofort zurück gezahlt werden oder die Zinsen schossen in die Wolken. Subventionen blieben aus, der Bauboom bebte, die Inflation befeuerte die Preise und die Touristen wichen in die günstigeren, neuen Urlaubsorte Türkei, Kroatien ,Bulgarien aus: Gleiche Flugzeit, mehr Bier für’s Geld! Fazit: Innerhalb kürzester Zeit brach die gesamte, politisch manövrierte und von den Banken initiierte Finanzblase Spaniens (und Portugals, Irlands etc.) zusammen wie ein heißes Soufflé. Nun war aber nicht mehr, wie in der Krise von 1995, der Pesete an Spanien gebunden, sondern der Spanier an den Euro: Eine adäquate Entwertung zur Abwehr von Inflation und Spekulation ließ sich nun nicht mehr durchführen.
Menschen verloren ihre Arbeit, ihre Häuser, ihr Kapital. Neben der Arbeitslosigkeit steigt nun auch die Kriminalitätsrate, allen voran Eigentumsdelikte und häusliche Gewalt.
Auch Deutschland litt unter dem Finanzschock, doch rappelte sich die Berliner Republik langsam wieder auf, teils aufgrund der sorgsamen Finanzpolitik, soviel Lob muß sein, teils auch aufgrund des im internationalen Vergleich niedrig gebliebenen Lohnniveaus für das Exportland Deutschland, vor allem aber – und das ist DER wesentliche Unterschied – aufgrund der vergleichsweise immer noch sehr diversifizierten Wirtschaft, einem ausgeprägten Mittelstand und einer – immer noch – großen produzierenden Güterindustrie. All diese Binnenfaktoren hatte Spanien aber unter González wie Aznar, unter Konservativen wie Sozialisten innerhalb der letzten 15 Jahre zu Gunsten eines vor der Nase tanzenden Möhrenbündels aus Brüssel zu Grabe getragen. Nun glaubt keiner mehr der aktuellen wie der kommenden Regierung, dabei priesen viele Medien vor 2008 den jungen, aktuelle Ministerpräsidenten Zapatero einmal als beliebtester Politiker Spaniens – doch nach dieser Krise geht nichts mehr. Zapatero hat jüngst auf eine Wiederkandidatur verzichtet. Schon zeichnen ihn Karikaturisten als den 2. González.
Unerhörte Perspektiven
Es gäbe einen mittelfristigen Ausweg aus der aktuellen Finanzkrise, der aber mit den Kriterien und Vorgaben der EU breche würde – und gleichzeitig Parallelen zur griechischen, portugiesischen, italienischen und französischen Wirtschaft aufweist:
Spanien müsste, wie auch die anderen genannten Länder, wieder einen Weg zurück in die heimische Industrialisierung, Investition in die Binnenwirtschaft, aber auch nur einen Schritt hinaus in die Nachbarwirtschaft wagen:
Wieso investieren Amerikaner, Chinesen und Türken immenses Kapital nach Marokko? Wieso boomt Tánger mit dem Ausbau seines Hafens, während gegenüber in Cádiz, auf der anderen Seite des Meerenge von Gibraltár, alles dicht gemacht wird? Wieso schrupft die Bevölkerung von Cádiz (1990: 250.000 Einwohner/2011: 165.00 Einwohner), während das ehemals arme Tánger zu Nordafrikas Singapur wird (1990: 280.000 Einwohner/2011: 2,5 Millionen Einwohner !!!).
Drei Gründe, die insgesamt wirksam aber einfach sind: Marokko baut den Handel mit den afrikanischen Nachbarn aus, nutzt die Chance, den mangels spanischer Wettbewerbsfähigkeit freigewordenen Hafenverkehr auszubauen und Güter aus Asien direkt anzunehmen und – kann die staatliche Währung, den Dirham, weiterhin bequem niedrig halten und nach eigenem Ermessen auf- bzw. abwerten. Längst schuften chinesische Wanderarbeiter nicht mehr in Spanien, sondern in Nordafrika. Den Beweis dafür sahen wir mit dem bitteren Exodus der Chinesen aus Libyens Bürgerkrieg. Das bedeutet, Marokko produziert für die südlichen Sahelstaaten, fischt für die EU (nachdem die Spanier ihre Quoten drastisch zurückfahren mussten), baut Schiffe für die Asiaten und liefert Rohstoffe in die USA. Spanien hätte diese Schlüsselfunktion für den Maghreb übernehmen können, zusammen mit Italien. Griechenland versucht schon lange, die alten Handelswege in den Orient wieder zu beleben, Portugal hat seine Chance vertan und bittet nun die ehemalige Kolonie Brasilien um Kapitalanleihen. Türken, Brasilianer, Amerikaner und Chinesen investieren dort, wo die EU jahrelang um Hilfe und Kooperation angefleht wurde. Doch außer Steuergelder für die libysche und marokkanische Küstenwache zur Bewachung der Festung Europa zu transferieren, setzte sich die EU überhaupt nicht im Maghreb ein. Doch während Italiener und Franzosen aufgrund ihrer Kolonialpolitik ohnehin nicht beliebt im nordafrikanischen Raum waren (und nun, allen voran Nocholas Sarkozy, ihre zweifelhaften Chancen zur „Wiedergutmachung“ über den Einsatz in Libyen wittern), stiegen die Sympathien zunächst für die hier unbefleckten Länder Spanien und Griechenland. Sie sind immer noch nicht verspielt. In den Straßen Tángers bleiben Spanier, trotz der militärischen Auseinadersetzung um die „Isla del Perejíl“ im Sommer 2002 und den Fischereikrieg, immer noch sehr beliebt, sowohl als Handelspartner wie Touristen: Geographische Nähe, kulturelles Erbe und familiäre Bande bilden hier drei wichtige Bewertungsfaktoren, aber auch die Haltung zur Politik: „Die Spanier erfahren nun das aus Brüssel, was wir jahrelang aus Paris bekamen: Versprechen, Versprechen, Versprechen. Wir verstehen ihren kurzen Blick nach Norden, aber willkommen werden sie nur von uns im Süden.“ ätzt der Bauleiter des neuen Touristenhafens östlich der Altstadt von Tánger.
Schafft Nachbarschaft!
Theorien zur Wirtschaftsbelebung gibt es aktuell wie Sand am Meer, um im Bild zu bleiben, doch eines stimmt: Hoffen und Warten will niemand mehr. Und der Glaube an die Allheilmacht des Euro und damit das Vertrauen in die Zielsetzungen der EU bröckelt, ja zerfällt mit kurzer Halbwertszeit an den Rändern der EU.. Vertrauen, so weiß jeder Börsenguru, ist aber ein elementarer Bestandteil im Finanzkreislauf. Frau Merkel täte gut daran, den Patienten aus Brüssel nicht noch weiter mit verbalen Volten zu erdrücken. Die Fliehkräfte wirken schon immens genug.
„Versprechen, Versprechen, Versprechen! Wenn ich an Offenbarungen glauben soll, gehe ich lieber in die Kirche“, unkt der Wirtschaftswissenschaftler Don Eugenio Gómez aus der Neustadt von Cádiz, ein betagter Herr, aber mit flinkem Verstand und scharfer Zunge gewappnet: „Schon die Konquistadoren suchten im Auftrag von genuesischen Banken das El Dorado und scheiterten mit ihrer Mission. Und schon damals floß das Geld in süddeutsche Bankhäuser, die Fugger, die Welser. Aber immerhin suchten die Seefahrer ihr El Dorado auf eigenen Schiffen und fuhren von eigenen Häfen. Es ist doch Selbstmord, eine Seefahrernation wie Spanien zur Schließung eigener Häfen zu bewegen, um sich dann von Touristen in Badelatschen abhängig zu machen, während gleichzeitig Nordafrikas Häfen wachsen – mit denen wir keinen Handel treiben dürfen. Wir Spanier sollten aufhören, den Henker zu preisen, nur weil er heute mit Nadelstreifen daher kommt, statt mit Lederschürze.“
Und wieder, harte Worte. Quer durch die Bevölkerung. Der spanische Wutbürger ist dem schwäbischen gar nicht unähnlich: Lange Zeit geduldig, gewissenhaft, ausdauernd, fügig, aber am Ende sind es diese normalen, bürgerlichen Menschen, die auf die Straße gehen und für einen Wechsel sorgen.
Quellen (Auswahl):
http://www.lavozdigital.es/ „La Voz“ – Tageszeitung aus Cádiz
http://www.diariodecadiz.es/ „Diario de Cádiz“ , Tageszeitung aus Cádiz
https://www.jobbydoo.es Spanisches Ministerium für Arbeit und Einwanderung
http://www.cadizturismo.com Tourismusbüro Cádiz
http://www.facebook.com/democraciarealya?sk=info Bürgerbewegung „Democracia Real YA!“
Photo: supafine
Artikel per E-Mail verschicken
Schlagwörter: Democracia, Real, revolution, Spanien, spanische, YA
13 comments
Madrid 2008: 700.000 Menschen feiern die 31. Meisterschaft von Real Madrid. 2010: 2 Mio. Menschen feiern die Weltmeisterschaft. 2010: 150.000 Menschen gehen auf die Straße, um gg. das neue Abtreibungsgesetz zu prostestieren. 2011: 7000 Menschen, gesteuert von IU und ERC gehen auf die Straße, jegliche Gesetzgebung zur Wahlpropagandephase misachtend und reden von Revolution.
Aus 7.000 wurden 70.000 und 700.000. Bald werden es 7 Millionen sein. Weil es nicht um Fußball oder sonst was geht, sondern um die reine Menschenwürde. Die Zeit war reif. Egal, was Mietmäuler und Spekulantenkumpels darüber in die Welt setzen lassen.
Hervorragender Artikel, herzlichen Dank! Ich hoffe, er findet viele Leser!
Endlich ein Artikel mit Informationen, die man aus der zensierten Presse nicht erhält.
Vielen Dank
JaneO.
ich lebe in andalusien und kenne einige Symptome an der Oberfläche, aber nicht Krankeheit dahinter! Danke an den Autor – gutes Material würde ihn gern ins spanische übertragen und den Einheimischen zugänglich machen – in hiesiger Presse verbietet der Nationalstolz und parteilihckeit den schonungslosen Blick!
Ganz herzlichen Dank für die vielen und aufbauenden Kommentare. Die spanischen Proteste haben gestern sogar die Schlagzeile der „International Herald Tribune“ betitelt. @ J. Ebermann: Sie können den Beitrag gerne, auch in Auszügen ins Spanische übertragen.
Beste Grüße: D. Khafif.
auch spannend, was sich hier bewegt..
http://www.youtube.com/watch?v=F2T9XTPsOrM
:)
Es ist absolut unverständlich, dass die Medien nicht ausreichend über die #spanishrevolution berichten oder wie im Fall des 27. Mai, der polizeilichen Räumung des Plazas de Cataluna, lediglich Unwahrheiten berichten. Die Ignoranz der Medien und Gespräche mit spanischen Bloggern haben uns dazu veranlasst, das Thema tiefgründiger zu untersuchen. Die Analyse findet ihr hier: http://tobesocial.de/blog/blog/analyse-social-media-revolution-spanien-15demayo-democracia-real-ya-acampadasol
Nun, alles schön und gut.
Die Jugendarbeitslosigkeit war auch 2009 bereits (offiziell) bei knapp 30% – wessen Schuld ist das? Auch „die Anderen“?
Die Bauindustrie leidet am meisten – ja wer denn sonst, wenn dies beinahe die einzige namhafte Industrie im Lande ist? Wer will denn noch mehr zugepflasterte Strände und Küsten haben?
Da hat Spanien (und nicht Deutschland, oder gar Frau Merkel) sich eine Party geleistet auf Rechnung seiner Partner-Staaten.
Und – sorry – ich kann es nicht einsehen, warum ich mit meinen Steuern diese Party bezahlen soll. Jeder Cent ist rausgeworfen.
Natürlich möchte auch ich nicht, dass irgend jemand Hunger leiden muss – und dafür bin ich bereit mein letztes Kleingeld für meine Nachbarn herzugeben.
Dass Spanien (und andere südeuropäische Länder) seit Jahren, vielleicht Jahrzehnten, ihre eigene Jugend sträflich vernachlässigt, in den Schulen (ich kenne das direkt aus der Comunidat Valencia) „Valenciano“ zur Pflichtsprache macht, anstatt ordentlichen Fremdsprachenunterricht anzubieten – DAS, ja DAS bezahlen jetzt die jungen Leute, die auf dem Weltmarkt nur schwer unterzubringen sind. Gute Fachleute auf ihrem Spezialgebiet, aber sie können sich nur unzureichend verständigen. Buchstäblich JEDES Schuljahr wurde im Vorfeld Deutsch als Fremdsprache angeboten. Und regelmäßig kam der Unterricht nicht zustande – angeblich, weil zu wenig Interesse bestanden habe. Allerding habe ich an den Schulen nie Deutschlehrer entdeckt.
„Schuld“ der Deutschen? Deutschlands? Frau Merkels? Nein. Schuld einer ganzen Generation von Politikern in Spanien (jeder Coleur).
Also, liebe Spanier, packt euch an der eigenen Nase.