Dialog um jeden Preis: Kundendienstler halten an einer fixen Idee fest – statt Service schaffen sie damit jedoch gehaltlose Worthülsen.
„Märkte sind Gespräche.“ Die erste These aus dem populären „Cluetrain Manifest“ zählt wohl zu den größten Missverständnissen der kurzen Rezeptionsgeschichte des Internets. Zwölf Jahre nach dem Erscheinen der 95 Thesen zum Wesen und Unwesen von Märkten und Marketing ziehen zwei der vier „Cluetrain“-Autoren Bilanz. Veröffentlicht in der Februar-Ausgabe der Zeitschrift „brand eins“. „Cluetrain“ ist wohl auf falsche und höchst einseitige Weise Kanon der Marketingbranche geworden. Einige Unternehmen würden den Gesprächen in vernetzten Märkten zwar besser zuhören – aber nur, weil ihnen gar nichts anderes übrig bleibt.
„Aber die Schwungräder des Business as usual drehen sich weiter, sie betreiben Tracking und Targeting, sie fangen und akquirieren, managen und verwalten ‚ihre‘ Kunden, als ob wir Sklaven oder Vieh wären. Diese Einstellung ist immer noch dominierend, und ich glaube nicht, dass wir das allein auf der Unternehmensseite reparieren können“, wird Doc Searls von „brand eins“ zitiert. Die Menschen, die Kunden, müssten die Führung übernehmen und ihre eigenen Werkzeuge entwickeln. „Das meiste sogenannte Conversational Marketing ist genau genommen peinlich“, so David Weinberger.
Vieles sei roboterhaftes Gefasel. Netzunterhaltungen werden verfälscht und verseucht. Auch das freundliche „Wir haben verstanden, was darf ich für Sie tun“-Geblubber auf Facebook oder Twitter kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die meisten Firmen ihren Kommunikationsmodus immer noch auf Einweg geschaltet haben.
Der Kunde als Störenfried
Wer als Kunde anfängt zu kritisieren, ist ein unliebsamer Störenfried. Wer sich im Netz über Produkte und Services echauffiert, wird mit Floskeln abgebürstet. Anders kann ich folgende Antwort nicht werten:
„Sehr geehrter Herr Sohn, es tut uns leid, dass Ihnen in Verbindung mit einem Espresso-/Kaffee-Vollautomaten aus unserem Haus in den vergangenen Tagen Ärger entstanden ist. Um solchen Unannehmlichkeiten vorzubeugen, weisen wir auf unserer Homepage www.jura.com über die von uns autorisierten Fachhändler und die damit verbundenen Garantieleistungen hin. Somit ist sichergestellt, dass im Schadensfall Anspruch auf die volle Garantieleistung besteht. In Folge der hohen Beratungsintensität unserer Premium-Produkte (hier solltet Ihr Euch ein Beispiel an Steve Jobs nehmen: Bauhaus-Stil statt Techno-Stress, gs), beschlossen wir 2001, uns auf den beratenden Fachhandel als Vertriebsweg zu unseren Kunden zu konzentrieren. Wird unser Produkt bei einem von uns autorisierten Händler gekauft, gewähren wir als Hersteller 25 Monate Garantie. Ihre IMPRESSA C5 haben Sie bei einem von JURA nicht autorisierten Fachhändler erworben, weshalb wir keine Kosten in Garantie oder Kulanz übernehmen.“
So ein Auszug des Jura-Antwortschreibens auf die Protestnote in meinem Ich-sag-mal-Blog.
Da ich so doof war, die Jura-Maschine über Amazon zu bestellen, betrachtet man mich einfach nicht als Kunde.
Vollautomaten-Liebe
In meinen Recherchen über das höchst merkwürdige Servicediktat von Jura bin ich übrigens auf eine sehr dialogorientierte Website des Unternehmens gestoßen, die beispielhaft ist für die Debattenkultur der Wirtschaftswelt: „Und das sagen unsere Kunden …“ heißt die Aneinanderreihung von Jubelperser-Statements, ohne Möglichkeit für Kunden, dort selbstständig etwas zu posten.
Entsprechend glaubwürdig ist diese Anthologie der Freude, Kunde der Schweizer Kaffeeautomaten-Seligkeit zu sein. Da schreibt doch Rita W. am 25. Januar 2012: „Wir möchten uns für die reibungslose und mehr als exclusive Betreuung des Hauses JURA nochmals sehr bedanken. Dieser Service ist ohne Übertreibung einmalig und muss weiter empfohlen werden.“
Am selben Tag kommt Konstanze L. zu folgender Erkenntnis: „Nochmal vielen Dank für Ihre schnelle und nette Antwort. Das Milchschaumset haben wir besorgt und der Milchschaum ist fantastisch wie zuvor. Ich wollte Ihnen auf jeden Fall mitteilen, wie sehr wir mit ihrem Kaffeevollautomaten und auch dem Service zufrieden sind.“
Ähnlich orgiastisch ist die überschäumende Stellungnahme von Wilfried H. am 12. Januar 2012 (Rechtschreibfehler machen das noch authentischer, liebwerteste Jura-Gichtlinge): „Wir bedanken uns für den tollen Service unser Z5. Nachdem sie Anfang Januar 2012 ‚verstorben‘ war, und wir uns an den super kompetenten Service wandten, wurde uns geholfen. Wir versandten die Z5 am Freitag Nachmittag und am Dienstag Mittag klingelte der DHL an der Tür. Wir konnten es nicht glauben unser Herzstück war komplett gereinigt und repariert wieder zurück. So einen super guten Service haben wir noch von keinem Hersteller erfahren können. Auch der Preis ist super günstig (in der Maschine war alles kaputt) Wir sind total begeistert von der Firma Jura.“
Das waren mitnichten Eintagsfliegen. Denn auch vor zwei Jahren äußerte Werner S. am 7. Januar 2010: „Ein herzliches Dankeschön für die Bearbeitung und den schnell darauf folgenden telefonischen Kontakt. Ihr Service ist Spitzenmäßig! Fehlerbehebung übers Telefon einfach genial. Ruhig und ohne Zeitdruck. Die Maschine läuft wieder wie am ersten Tag. Suuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuper! Also nochmals vielen vielen Dank und ein erfolgreiches 2010.“
Einfach mal die Schnauze halten
Es fehlen eigentlich nur noch Heiratsanträge, um mit einem Kaffee-Vollautomaten den Bund der Ehe einzugehen. Christian Wulff würde wohl schon mit einem Zehntel der Jura-Liebesschwüre zufrieden sein, um wieder Kraft zu tanken für das schwere Amt des Bundespräsidenten.
Doc Searls hält übrigens diesen Plauderton von Unternehmen im Netz für reine Makulatur. Deswegen spricht er nicht mehr gerne von Märkten als Unterhaltungen. „Diesen Satz haben zu viele Leute falsch verstanden.“ Einigen Rabulistik-Rhetorikern des Marketings könnte man auch zurufen: Einfach mal die Schnauze halten.
Crosspost von theeuropean
Artikel per E-Mail verschicken
Schlagwörter: cluetrain