Die politischen Konsequenzen der Digitalisierung

Digitalisierung beschleunigt Prozesse, generiert „Big Data“, schafft neue soziale wie auch kommunikative Formen. Digitalisierung gilt manchen als demokratiefördernd, manchen als letztendlich ein Instrument der Eliten. // von Prof. Dr. Dr. Ayad Al-Ani

piracy, crowd, peer to peer

Alles davon ist zweifellos richtig. Digitalisierung wirkt aber auch enorm subversiv: Wer sich im Netz selbst organisieren kann und dort arbeitet, braucht a la long keine klassische „Gewerkschaft e.V.“. Wo die Crowd die Agenda rasch und öffentlichkeitsstark selbst setzt, wird der klassische Parteitag obsolet. Die betroffenen Institutionen und Organisationen scheinen dies allerdings bislang nur in Ansätzen wahrgenommen zu haben.

Dabei wird die Digitalisierung politische Institutionen und Riten nicht nur einfach verändern und anreichern. Sie wird sie in der Tat zersetzen und auch auflösen können. Gewerkschaften, Unternehmensverbände und Parteien müssen sich auf eine tiefgreifende Änderungen ihrer Klientel einstellen: Das digitale Arbeitsleben fördert eine brüchige Biographie, die keinen durchgehenden Spannungsbogen erlaubt. Die von Arbeitsplattform zu -plattform unterschiedlich agierenden Individuen weisen daher auch oft nur kurzfristige und partielle Interessen auf, die sich schwer bündeln und langfristig – etwa „für die Partei“ – stabilisieren lassen. Gleichzeitig manifestieren sich diese Interessen an schwer vorhersehbaren Druckstellen und dann mit voller Wucht und fordern damit das politische Establishment heraus, wie Occupy, Stuttgart 21, der Tahrir Platz und die Wähler der Piratenpartei zeigten. Es sind Individuen, die gemeinsame Ziele verfolgen können, jedoch ohne ihre Individualität abzustreifen und in Summe eher eine „Multitude“ (deutsch: eher Menge als Masse), als eine spezifische Schicht oder Klasse darstellen, wie die Philosophen Hardt und Negri argumentieren. Es sind also WählerInnen, die ihresgleichen relevanter als alle anderen – geschweige denn etablierte Institutionen – betrachten. Die kein organisationales „Über-Ich“ wollen oder brauchen, sondern deren Modus vivendi aus der Netzproduktion (Open Source, Wikipedia etc.) übernommen wurde und eher „Peer to Peer“ (P2P) lautet, also eine selbstgesteuerte und freiwillige Kooperation zwischen gleichberechtigten Partnern/Produzenten den Vorzug gibt und von Top-Down-Parteiprogrammen und Parteitagsritualen weit entfernt sind. Diese Kollaborationen sind keine anarchischen oder gar überindividualisierten Ausdrucksformen, sondern sind im Gegenteil filigrane und hochkomplexe Organisationsformen, deren hochmotivierte Mitglieder sich eigene Regeln und Rollen geben, kurzfristig (Tahrir) oder auch längerfristig existieren (Open Source) können.

War man zunächst der Meinung, dass soziale Medien nun endlich eine neue und innovative Phase der traditionellen demokratischen Akteure einleiten könnten, so wurde diese Hoffnung (bislang) enttäuscht. Nach Habermas wäre eine großangelegte und alle wichtigen Bereiche durchdringende Deliberation – als eine Art Diskurs „überlappender Öffentlichkeit“ – sinnvoll, um zu einer politischen Willensbildung zu gelangen. Was wäre einleuchtender, als einen solchen Diskurs über soziale Medien zu führen und so endlich gesellschaftsweite politische Debatten zu ermöglichen? Es zeigte sich allerdings, dass diese Deliberation wohl von vielen als das betrachtet wird, was Habermas selbst einräumte: als Instrument, welches gegenüber dem eigentlichen „politischen Zentrum“ durchaus weit entfernt sein kann. Politische Aktivisten müssen sich nun aber nicht mehr mit Reden in Bürgerversammlungen und der Wahl von Repräsentanten zufriedengeben, nicht mehr mit „dem stillen Wechselgespräch der bürgerlichen Zeitungsleser mit ihren Leitartiklern, nicht mehr mit Tagesschau-Auftritten, Talk Shows und Statements in Wahlsondersendungen“, wie der Internetforscher Martin Linder konzertierte. Vielmehr stünden jetzt‚ User im Zentrum, für die Information immer nur einen Klick entfernt ist und die vor allem aus eigener Kraft und in kurzer Zeit komplexe Netzwerke bilden und so dem politischen Quietismus – also der im politischen System teilweise bewusst eingebauten „stabilisierenden“ Apathie – entrinnen können.

Statt Diskussion Aktion

Der Protest gegen herrschende Umstände wird also nicht unbedingt nur durch mehr kritische Diskussion ausgedrückt, sondern eher durch konkrete Aktionen: Es wird niemand mehr angemahnt, endlich Verantwortung zu übernehmen – Luhmann unterstellte dem Protest ja deshalb immer eine gewisse Sinnlosigkeit: Das Geheimnis der Alternative ist: daß sie gar keine Alternative anzubieten habe.“ – sondern durch Kollaboration kann das Problem selbst gelöst werden: „To resist is to create“. Fast könnte man sagen, die intensiven Jahre der Diskussion haben in vielen das Verlangen ausgelöst, nicht noch mehr zu reden, sondern jetzt endlich – gemeinsam mit anderen – handeln zu können. Oder wie es ein Mitglied der deutschen Occupy-Bewegung ausdrückte: Es gibt keinen Grund jetzt mit spezifischen Themen aufzuwarten, es gibt genug bekannte Probleme“. Die neue Rolle der Bürger scheint sich also hin zu einer aktiven Rolle zu entwickeln, welche durchaus auch eine kurzfristige sein kann. Deshalb, so etwa die für Bürgerbeteiligungen in Baden-Württemberg verantwortliche Staatsrätin, ist es wichtig, einen Platz für diese punktuelle Einbindung und Verantwortungsübernahme finden.“ Damit soll natürlich nicht behauptet werden, dass die sozialen Medien in der politischen Sphäre nur auf Aktion ausgerichtet sind, aber es scheint nun zumindest eine aktivistische Option zu geben, auch wenn dieser nicht immer erfüllt werden kann, wie Mega-Blogger Sascha Lobo anmerken musste: Wir haben zu viel getwittert und zu wenig gemacht“.

So überrascht es nicht, dass die traditionelle Politik nun immer öfter versucht, ihre Handlungsfähigkeit und Legitimation durch die Nutzung der Kraft von P2P zu steigern: Die Autoren der neuen isländischen Verfassung suchten die Partizipation der Crowd und selbst in Deutschland experimentierte man damit, einen „virtuellen“ Sachverständigen für parlamentarische Projektgruppen einzusetzen, der als Schnittstelle zu tausenden von interessierten Partizipanten fungierte (18. Sachverständige). Die Bertelsmann-Stiftung präsentierte vor einiger Zeit eine eindrucksvolle App (Beteiligungskompass), die Nutzern und Initiatoren von partizipativen Projekten auf kommunaler Ebene zur Verfügung steht und die täglich an Beispielen wächst.

Die „Nutzung“ von P2P durch die traditionelle Politik erscheint auch deshalb einfach, weil die neuen Lebens- und Arbeitsweisen scheinbar einen breiten Mix aus den bestehenden Ideologien verkörpern. So werden hier liberal-konservative Werte wie Individualismus, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung gepaart mit der Forderung nach Grundsicherung und Partizipation, die man traditionell dem linken Spektrum zuordnen kann. Und die Gefahr der selektiven Kooptation dieser Werte durch die Politik ist natürlich groß, wie das Beispiel des „Big Society“-Programms der britischen Regierung zeigte: Weil durch die Finanzkrise Mittel für Sozial- und Bildungspolitik wegfielen, sollten die Bürger durch eigene Kraft und Kollaborationen diese öffentlichen Leistungen ersetzen. Hier wurde übersehen, dass der Peer ja nur produktiv werden kann, wenn er eine gewisse finanzielle Sicherung hat!

Dass P2P eigene politische Modelle herausarbeitet, scheint allerdings (noch) nicht ohne weiteres möglich, wie auch das Beispiel der Piratenpartei zeigte. Peer to Peer kommt nämlich aus dem Wirtschaftsbereich und es geht in diesen Kollaborationen vor allem darum, die beste Lösung zu erarbeiten. Solche Ideen müssen dann nicht unbedingt auch Ausdruck eines repräsentativen, demokratischen Willens sein und sind es wohl meistens auch nicht (eher die, einer „Microelite“ des Mittelstandes). P2P ist vor allem eine Meritokratie, eine Kollaboration also, die ihre Mitglieder rein auf Basis ihrer Leistung und weniger aufgrund ihrer Bedürfnisse oder politischen Rechte evaluiert.

Kann nun P2P eigene Standpunkte entwickeln oder ist sie nicht vielmehr eine „Fantasie“ des Kapitalismus, der nach neuen Entwicklungen sucht? Sicher scheint zu sein, dass es innovativen P2P-Kollaborationen gelingt, die Grenzen des Kapitalismus – dessen einzige Schranke wie Marx feststellte, ja das Kapital selbst ist – zumindest ein Stück weit überwinden zu können. Sicher scheint auch zu sein, dass traditionelle politische Institutionen früher oder später mit P2P bzw. deren Prinzipien kooperieren werden und es zu direkten und indirekten Kooptationen und hybriden-Modellen kommen kann, wie in der Wirtschaft. So konnte man auf dem Höhepunkt der Occupy-Bewegung 2012-13 bereits erkennen, dass hier Mitglieder der Grünen, Kirchen und Linken mitwirkten. Darüber hinaus schien dieser Zeitpunkt eine gewisse „Piratisierung“ der traditionellen Parteien im Sinne der Nutzung von Abstimmungssoftware und neuen Medien zu bewirken (Seehofers Facebook-Party). Bei allen Schwierigkeiten, die eine Beziehung zwischen P2P und der traditionellen politischen Organisation mit sich bringt – die von der Crowd mitentwickelte isländische Verfassung wurde etwa vom Parlament nicht umgesetzt -, kann diese durchaus vom beidseitigen Vorteil sein, da nun P2P mit einer demokratischen Legitimation versehenen werden kann und es der traditionellen Partei durchaus gelingen kann, die verschiedenen Druckpunkte, mit denen sich P2P auseinandersetzt zu vereinen und zu verbinden, wie die Politiktheoretikerin Chantal Mouffe anmerkte.

Politische Variation in Sicht

Eine politische Alternative ist damit noch nicht in Sicht, eher eine Variation. Aber genau dies muss nicht falsch sein. Die bisherigen Erfahrungen haben ja gezeigt, dass neue soziale und politische Bewegungen auch eine neue Art der Steuerung und Zusammenarbeitsmodelle benötigen. Diese entstehen ja nicht auf dem Reißbrett, sondern müssen durch Experimente ausprobiert und entwickelt werden. Und genau dies passiert zurzeit.


Teaser & Image by Jon Åslund (CC BY 2.5)


ist ein Professor für Change Management und Consulting. Momentan forscht er am Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft (HIIG) auf dem Gebiet der internetbasierten Innovationen und ist Geschäftsführer der Beratungsagentur «tebble». Zuvor war er Professor an der ESCP Europe Wirtschaftshochschule Berlin und der Hertie School of Governance in Berlin. Zusätzlich führte er die Berliner ESCP Europe Wirtschaftshochschule Berlin als Rektor. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Change Management, Digitale Ökonomie und Politik, Organisationtheorie und Strategisches Management. Prof. Al-Ani verfügt über 20 Jahre Erfahrung in internationaler Beratungsfirmen und war zuletzt Executive Partner bei Accenture und Managing Director des Wiener Büros.


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