Gezeitenwende: Tidal, der neue Streamingservice der Musik-Superstars

Warum es tatsächlich neue Ansätze beim Streaming braucht – unabhängig von Tidal. Musik für alle? Der neue Streamingservice Tidal will genau das bieten. Noch dazu in bester Qualität. Mit großem Bohei brachten ihn seine Besitzer – Musik-Superstars wie Beyoncé, Madonna und Jay-Z – gestern Nacht an den Start. Begleitet von zahlreicher Kritik. Zu teuer sei das Angebot, zu reich seine Besitzer. Und überhaupt: Musik für alle? Die gibt es doch bereits auf anderen Plattformen – und zwar umsonst. Dass das Musik-Streaming dennoch dringenden Reformbedarf hat, wurde dabei unterschlagen. In Deutschland jedenfalls kann man Tidal schon seit Jahr nutzen.

Wer hinter Tidal steckt

Was eint musikalisch so unterschiedliche Künstler wie Alicia Keys, Arcade Fire, Beyoncé, Coldplay, Daft Punk, Jack White, Jay Z, Kanye West, Deadmau5, Madonna, Nicki Minaj, Rihanna und Usher? Millionen von Facebooks-Fans, zahlreiche Grammys und neuerdings ein eigener Streamingservice.

Es mutete leicht skurril an, wie die millionenschweren Musikstars zuerst geschlossen ihre Social-Media-Accounts in das firmeneigene Tidal-Türkis tauchten, bevor sie sich dann gestern Nacht in einer live übertragenen Pressekonferenz als etwas hüftsteife Hybriden aus den Gründervätern, Robin Hood und Steve Jobs präsentierten. Friedrich Nietzsche wurde zitiert, eine eigene Erklärung unterzeichnet, und die sprichwörtliche Gezeitenwende durch den allerersten, von Musikern besessenen Streamingservice beschworen.

Für 50 Millionen Euro hatte ein Firma des erfolgreichen Rappers und Geschäftsmanns Jay Z im Januar 90 Prozent der Anteile am norwegisch-schwedischen Unternehmen Aspiro gekauft, auf dessen Technik Tidal basiert. Die anderen prominenten Mitbesitzer sowie die Beteiligung des US-Mobilfunkbetreibers Sprint wurden erst gestern bekannt. Noch ist allerdings unklar, wer nun tatsächlich welche Anteile an Tidal hält.

Was Tidal bietet

Als neu am Streamingservice wurden dessen Integration von 75.000 Musikvideos sowie kuratierte Playlisten und Artikel zu einzelnen Veröffentlichungen beworben. Das Kernstück bildet aber das verlustfreie Streamen der Musik im Format FLAC. 1411 kbit pro Sekunde sorgen für Studioqualität daheim.

Das klingt sehr angenehm und gut, kostet aber extra. Während der normale Tidal-Zugang – ohne FLAC – für die standardmäßigen zehn Euro pro Monat zu haben ist, werden für die teuere Hochqualitätsvariante zwanzig Euro fällig. Eine vermeintlich kostenlose, da werbefinanzierte und regulierte Alternative wie beim Marktführer Spotify (der dafür kein HiFi anbietet) gibt es allerdings nicht.

Und das stieß sofort auf wenig Gegenliebe – eine Auswahl übersetzter Onlinekommentare: „Seid ihr mit den Millionen, die ihr bereits macht, nicht zufrieden?“ „Ich werde trotzdem weiterhin nicht für Musik bezahlen, haha.“ „Man darf die großen Labels nicht die Streaming-Industrie kontrollieren lassen.“

Warum das Geschäftsmodell Streaming generell überarbeitet werden muss

Das verkennt gleich mehrere Realitäten. Zum Einen sind die großen Labels wie Universal und Sony bereits eh an Diensten wie Spotify und kostenlosen Alternativen wie Soundcloud mit Anteilen beteiligt, während YouTube und iTunes mit Google bzw. Apple nun auch nicht gerade in der Hand kleiner, bescheidener Graswurzelbewegungen sind. Zum Anderen gerät die Streaming-Revolution aktuell ins Stocken.

Die Musikindustrie in den Vorreiterländern Schweden und Norwegen kann zwar wieder Umsätze wie auf dem Niveau von 2005 generieren. Das entspricht aber noch nicht einmal zwei Dritteln der Vorkrisenumsätze und zugleich ist es aktuell fraglich, ob das Wachstum tatsächlich anhalten wird. Die gleiche Frage stellt sich, wenn man auf die Europa-Zahlen des großen Musikdienstleisters Kobalt schaut: Im vierten Quartal konnte Spotify hier erstmals iTunes in den Einnahmen übertrumpfen, allerdings nahm die Summe der beiden ab. iTunes verlor netto mehr, als Spotify zulegte. Weltweit kamen im letzten Jahr auf 2,7 Milliarden bezahlter Downloads das 442-fache an Streams jeder Art – nämlich 163,9 Milliarden. Dennoch generierten die Downloads fast doppelt so viel Umsatz. Und eben dieses Bild findet sich auch bei Spotify, wo die drei Viertel „Gratis“-Nutzer mit ihren werbefinanzierten, Nicht-Abo-Streams im letzten Jahr in den USA gerade einmal 15,8 Prozent der Einnahmen einbrachten.

Einige letzte Zahlen noch: Von den 9,99 Euro eines monatlichen Spotify-Abos gehen aktuell 4,56 Euro an die Labels, 1 Euro an die Urheber und 68 Cent an die Interpreten. Ausgeschüttet wird allein nach der Anzahl der Gesamtstreams der einzelnen Titel, was große Interpreten und vor allem Labels begünstigt.

Wenn man nun bedenkt, dass etwa Apple derzeit mittels seiner Marktmacht versucht, den Zehn-Euro-Standard für seinen kommenden Streamingservice zu unterwandern, und man sich die Verhandlungen rund um das Konkurrenzangebot von Google ins Gedächtnis ruft, kann man leicht zu den Schluss kommen, dass die Zeichen eher auf Ebbe denn auf Flut stehen.

Ob Jay Z & Co daran wirklich etwas ändern wollen, bleibt vorerst vage. Es ist weiterhin Sache der Künstler und der Labels selbst, das Ausschüttungsverhältnis in den eigenen Verträgen zu verhandeln. Vorstellbar ist aber, dass Tidal die etwas mehr als 20 Prozent, die ein Streamingservice üblicherweise selbst aus den Abos einnimmt, nochmals in Teilen an die Urheber und Interpreten weitergibt – oder aber schlicht und einfach selbst behält.

Tidals Vorgänger in Deutschland

Und so bleibt die vorerst größte Überraschung an Tidal, dass es gar keine ist: Nutzer in Deutschland konnten den Service schon seit Jahren nutzen. WiMP hieß und heißt der Dienst noch, den das übernommene Aspiro vor fünf Jahren in Konkurrenz zu Spotify ins Leben rief. Seit drei Jahren gibt es ihn auch hierzulande. Wenig später wurde die jetzt stets betonte HiFi-Variante eingeführt. Tidal ist nahezu baugleich zu WiMP (siehe Screenshots, gemacht auf einem Samsung Galaxy S3 mit Android).

Zum Zeitpunkt der Übernahme nutzten allerdings gerade einmal acht Prozent der etwas mehr als 500.000 Aspiro-Kunden den WiMP-HiFi-Zugang. Das ist ein Umsatzplus von zumindest vier Prozent im Vergleich dazu, wenn die Aspiro-Dienste lediglich das normale Zehn-Euro-pro-Monat-Standardpaket anbieten würden. Fraglich ist, ob der neue Elitebesitzerclub, der wahrlich nur ein sehr, sehr kleinen Teil einer sonst eher wirtschaftlich bescheiden gestellten Zunft repräsentiert, das Konsumentenverhalten allein mit seiner Prominenz verändern kann. Am Tag danach wirkt es eher so, als wären die sinnvollen Argumente hinter lauter Selbstverliebtheit verschwunden.


Image (adapted) „Jay-Z“ by Daniele Dalledonne (CC BY-SA 2.0)


schreibt als freier Journalist vor allem über Kultur und Gesellschaft im Angesicht der Digitalisierung.


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