Die Konsequenzen von Facebook Live für den Journalismus

Es scheint, als würde mittlerweile jede Woche ein neues verheerendes Facebook-Live-Video gepostet. Im Januar tötete ein Teenager aus Florida sich selbst live im Internet. Eine Frau in Schweden wurde vergewaltigt, die drei Angreifer übertrugen die Tat im Internet, wo sie von Hunderten nachverfolgt werden konnten, ebenso wurde der Suizid eines 12-jährigen Mädchens in den sozialen Netzwerken übertragen.

Währenddessen gibt es andere Fälle von Livevideos, zum Beispiel Erschießungsmanöver durch die Polizei oder Foltervideos aus Chicago. Sie sind zur Schlüsselfigur in den Kontroversen von öffentlichen Debatten um Rasse und Gewalt geworden. Zusammengefasst wurden im vergangenen Jahr 57 Fälle von live im Internet übertragender Gewalt verzeichnet.

Diese Ereignisse rufen Fragen von Ethik und Verantwortlichkeit von sozialen Netzwerken hervor. Sie zeigen außerdem den Kern der Verlagerung der Medien: Das Übertragen eines Live-Videos im Internet war bisher ein komplexes technisches Unterfangen, man benötigte Fernsehkameras, Fahrzeuge sowie Satelliten. Die heutige Allgegenwertigkeit des Smartphones und den sozialen Netzwerken macht die Liveübertragung so einfach wie das Antippen einer App. Das Ergebnis ist eine neue Welt von Livevideos, welche das Gute, das Böse und das Hässliche der Gesellschaft dokumentieren und uns zum Nachdenken über visuelle Informationen, die durch Augenzeugen öffentlich gemacht werden anregen, sogar, wenn es um journalistische Mode geht.

Hier sind fünf Beobachtungen, um zu verstehen, wie die Liveübertragung von Diensten wie Facebook Live und Periscope den heutigen Journalismus herausfordern.

1. „Live-Sein“ und Zeugnis ablegen

Fotos und Videos besitzen eine realistische Perspektive, die von den Zuschauern für sehr authentisch gehalten wird. Der Medienphilosoph John Durham hat gezeigt wie das „Live-Sein“ von audiovisuellen Medien den Sinn für Authentizität betonen kann, durch die Bedeutung des kollektiven Zeugnisablegens. Journalisten handeln zum Beispiel als Zeugen für Ereignisse und die Zuschauer legen für die übertragenen Neuigkeiten und Berichte Zeugnis ab.

Im Juli 2016 legte Facebook Live die Tötung von Philando Castile durch die Polizei offen. Dieses Video diente, um Zeugnis abzulegen und wurde zu den öffentlichen Diskussionen um Polizeibrutalität hinzugefügt.

Aber das Video von Castile zeigte außerdem die zwei Seiten der Medaille: Die überwältigenden und zugleich die herausfordernden Aspekte Zeugnis zu live Ereignissen abzulegen: Videos können das Bewusstsein der Bevölkerung verbessern, während in manchen Fällen explizites, pornografisches oder raubkopiertes Material vorhanden ist.

2. Visuell betriebener Inhalt

Unser kulturelles Milieu, Nachrichten und soziale Medien eingeschlossen, orientiert sich zunehmend visuell. Die Einbeziehung von visuellen Elementen erhöht die Zuschaueraufmerksamkeit und die Bildsprache kann zu unmittelbaren emotionalen Reaktionen führen. Bilder sind einfacher abzurufen als Worte, außerdem können sie humanitäre Handlungen herbeiführen, obwohl diese Effekte nur kurzlebig sind. In einem Umfeld von sozialen Netzwerken können Bilder die Bindung steigern, was häufig ein Kernziel für die Nutzer ist.

Nachrichtenagenturen und Plattformen für soziale Medien wissen sehr gut über diese Effekte Bescheid. Facebook designt, wie andere Anbieter von sozialen Medien, sein Interface so, dass Bilder betont werden. Hinzu kommt das phänomenale Wachstum von Videos – Youtube hat inzwischen mehr als eine Milliarde NutzerNachrichten und Webseiten von sozialen Medien versuchen ihre Formate und Werkzeuge anzupassen, um zu profitieren, deshalb auch die Entwicklung von Facebook Live.

Facebook hob diese Funktion ursprünglich für professionell handgemachte Videos hervor, es wurden sogar Verlage für die Nutzung der Livefunktion bezahlt. Nun jedoch scheint das soziale Netzwerk die normalen Nutzer stark zu drängen, sowohl Livevideos zu konsumieren, als auch selbst eigene Livevideos zu erstellen. Facebook sagt, dass Livevideos zehnmal mehr Kommentare generieren als normale Kommentare.

3. Berichtende Bürger

Während Nachrichteninhalte sehr stark von Medienorganisationen dominiert werden, die als Wächter fungieren, zeigt die Do-it-yourself Informationsweitergabe und das Teilen, dass die Presse nicht unbedingt die letzte Hürde sein muss. Zuschauerbasierte Formen von Journalismus, wie zum Beispiel das Teilen von Videos von Schlagzeilen, sind in keinem Fall neu, aber die weitverbreitete Nutzung von Smartphone-Kameras und die Veröffentlichung mithilfe eines Klicks hat den Bürgerjournalismus zu einer beinahe selbstverständlichen Form der zeitgenössischen Medien gemacht.

Wie man am Women’s March und an den Flughafenprotesten gegen Trumps Beschlüsse sehen konnte, bedeutet das heutzutage, gleichzeitig live zu dokumentieren, um die eigene Reichweite vor dem Hintergrund der Protestorte auszudehnen.

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Das Besondere dabei: Plattformen für soziale Medien wie Facebook tendieren zu einer privatisierten, an Freunden und Familie orientierten Form, steigend sind die Plattformen für die Erstellung und Teilen von nutzergenerierten Nachrichten, die die Nachrichtenorganisationen alle umgehen. Die Ausbreitung von nutzergenerierten Inhalten ist wichtiger.

4. Livevideos, die Nachrichten verbreiten

Livevideos können zunehmend Ziel der formaleren Berichterstattung werden, wenn sie genug Traffic haben. Im Endeffekt führt die soziale Zirkulation sich selbst zum Problem des Aufgesammelt Werdens von Nachrichtenorganisationen. Dies führt wiederum zu einer weiteren sozialen Konversation wie zum Beispiel im Fall von Castiles Tod, live gedreht und erhalten, damit andere es sich ansehen können.

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Dies bedeutet nicht etwa, dass Livevideos bei Facebook zu einer Schlagzeile in den Nachrichten werden – dies wird nur bei sehr wenigen der Fall sein. Facebook-Livevideos können eher einen Zyklus generieren, in dem Videos von sozialen Medien zu einer breiteren Berichterstattung eines bestimmten Ereignisses oder Problems führen und damit höheres Bewusstsein in der Bevölkerung erzielen – das bedeutet, dass wahrscheinlich mehr Leute neue Livevideos zu diesem Thema teilen werden.

5. Ethik

Journalistische Vorschriften der Ethik sind vor allem die Suche nach der Wahrheit und die Verringerung von Schaden. Facebook muss natürlich nicht die gleichen ethischen Bestimmungen befolgen, wir haben schon häufiger enorme ethische Verfehlungen des Medienriesen mitverfolgt. Zudem sehen sich ganz normale Facebook-Nutzer, die Livevideos erstellen nicht, als Journalisten, daher sollte auch nicht von ihnen erwartet werden, dass sie journalistische Verantwortung dabei im Blick haben.

Was reflektiert werden sollte, ist unsere kollektive Verantwortung als Facebook Nutzer, Live-Übertragende oder auch: Was für Werte leiten wir her? Wie viele tausende Menschen haben die Liveübertragung des Selbstmordes des 12-Jährigen Mädchen gesehen, darauf reagiert und sogar kommentiert? Sind wir so abgestumpft?

Facebook will, dass wir Voyeure werden. Und während Livevideos genutzt werden können, um die menschlichen Erfahrungen und die Bildung der Öffentlichkeit zu bereichern, tendieren sie eher dazu, von dem Hässlichen und Gottlosen zu handeln. „Vergnügen wir uns nur bis zum Tod“ mit dem Alltäglichen, so wie es der Medienwissenschaftler Neil Postman über ein weiteres Video andeutete?

Letzte Überlegungen

Liveübertragene Videos beschmutzen den Knotenpunkt von Facebook und Journalismus. Facebook hat mehr als eine Milliarde Nutzer am Tag, 66 Prozent der User konsumieren Nachrichten dort. Das macht Facebook, nach dem was man hört, zum weltweit führenden Nachrichten-Gatekeeper.

Es hat strenge Untersuchungen bezüglich der aufbauenden Beweise der Zensurgegeben, bis hin zu Bereitstellung von Filterblasen und Echokammern.

Während Facebook seine Rolle als Medienfirma verneint hat, gibt es dennoch Hinweise darauf, dass die Plattform seine Verantwortlichkeit neu bewertet, zum Beispiel indem frühere Journalisten eingestellt werden, um neue partnerschaftliche Teams zu führen und die Entwicklung von Facebook.- Projekt zu Journalismus zu entwickeln, obwohl Kritiker andeuten, dass diese Handlungen mehr zynischen Anstrengungen zur Schadenskontrolle gleichen.

Es ist eindeutig, dass die Liveübertragung per Video in den sozialen Medien uns dazu zwingt, darüber nachzudenken, wie wir über Nachrichten denken – ihre Schnelligkeit, ihre Verbreitung und ihr bestimmender Einfluss Zeugnis im öffentlichen Leben abzulegen.

Dieser Artikel erschien zuerst auf „The Conversation“ unter CC BY-ND 4.0. Übersetzung mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.


Image (adapted) Corridor View by Sonya Mann (CC BY 2.0)


The Conversation

ist Assisstenzprofessorin im Bereich Visual Communication der School of Journalism and Communication der University of Oregon. Sie beschäftigt sich mit ethischen und technologischen Problemen der visuellen Kommunikation, mit Fokus auf Fotojournalismus im digitalen Zeitalter.


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