Einer der größten Medienkonzerne Amerikas hofft, dass junge Leser ihre Nachrichten auf dieselbe Weise, wie Videospieler „World of Warcraft“ und „Doom“ spielen, erhalten möchten. Das Gannett-Unternehmen zeigte vor ein paar Wochen eine Vorschau auf sein erstes Projekt, welches Lesern erlaubt, eine Nachricht in virtueller Realität zu erleben. Das Projekt – von Gannetts Digitalabteilung und der Des Moines Register produziert – setzt voraus, dass die Nutzer dabei das futuristisch wirkende Headset Oculus Rift tragen, ein kleines brillenartiges Videogerät, das auf die Kopfbewegungen des Trägers reagiert.
Während das Rift vorwiegend für Spiele vermarktet wird – damit können Nutzer zum Beispiel vor blutrünstigen Aliens fliehen oder einen 825 Meter hohen Kampfroboter bedienen -, ist Gannetts Projekt aber deutlich weniger unheimlich. Als Teil eines Sonderberichts der Des Moines Register über die Landwirtschaft in Iowa besteht die erste Virtual Reality-Vorführung des Unternehmens aus einer umfassenden 3D-Wandertour durch eine Familienfarm im Südwesten Iowas. Headset tragende Nutzer können dort beobachten, wie ein Traktor repariert wird, neben einem Kind her gehen, welches ein Kalb führt, und viele weitere Farmtätigkeiten anschauen, die in Computeranimationen, Videos und Bildern dargestellt werden.
„Auf diese Art und Weise müssen wir, als Journalisten, die Minecraft-Generation ansprechen„, sagte Gannett-Vizepräsident/Produktmanager Mitch Gelman und erklärte, dass sich das Projekt an 12- bis 29-Jährige richtet, „die grundsätzlich nicht die Zeitung von ihrer Veranda holen oder sich vor Brian Williams hinsetzen.„
Gelman erzählt, dass Gannett weniger als 50.000 US-Dollar fürs Projekt ausgegeben hat, was die Aufnahme eines 360-Grad-Videos einschließt, sowie die Vorbereitung von redaktionellem Inhalt und das Rendern der Vorführung in einer Software-Engine namens Unity. Das fertige Produkt schaut sich viel von der Ästhetik der Spiele ab – zum Beispiel drehende Icons, auf die Nutzer klicken können, um neue Gegenstände freizuschalten und zu erforschen.
„Die Minecraft-Generation liebt es, Dinge zu finden, zu bauen, zu entdecken und Spaß zu haben„, erzählte Gelman via Telefon von Gannetts‘ Hauptsitz in Nord-Virginia. „Anstatt fiktive Darstellungen in dieser Spiel-Art zu bauen, sollten wir faktische Non Fiktion bauen können.„
Neue Möglichkeiten und neue ethische Fragen
Die Des Moines Register promotet das Projekt als „innovative journalistische Erfahrung„, aber nur wenige Leser werden es in vollem Umfang erleben können. Das Rift-Headset befindet sich noch in der Entwicklungsphase und Hersteller Oculus VR rechnet nicht vor 2015 damit, es öffentlich zu vermarkten. Fürs Erste beschränkt sich das Publikum hauptsächlich auf die etwa 125.000 Entwickler und Hardcore-Spieler, die Rift-Prototypen besitzen. (Eine vereinfachte 2D-Version der Farm-Tour ist auf der Webseite des Des Moines Register nutzbar.)
Nichtsdestotrotz sehen Befürworter der virtuellen Realität darin eine Technologie, die kurz davor steht, in die breite Masse einzubrechen. Facebook hat Oculus VR Anfang dieses Jahres für etwa 2 Milliarden US-Dollar erworben und Sony, Samsung sowie Google zählen ebenfalls zu den Unternehmen, die Virtual Reality-Headsets vorbereiten.
„Alle Ressourcen stehen zur Verfügung, damit die virtuelle Realität von einer Nischen-Spieleanwendung zu einer Mainstream-Unterhaltung wird„, sagte Geoffrey Long, Technischer Direktor und Forschungsmitarbeiter am USC Annenberg Innovation Lab.
Long und seine Kollegen suchen nach Wegen, wie virtuelle Realität die verschiedenen Arten von Content verbessern kann, einschließlich Horrorfilme, TV-Serien und Dokumentarfilme. Ein ehemaliger Annenberg-Mitarbeiter, Filmemacher Nonny de la Peña, verwendet die Technologie, um „immersiven Journalismus“ zu erschaffen, der Nutzern die Möglichkeit gibt, Dinge wie einen Raketenangriff in Syrien oder eine Warteschlange für Fleisch in Los Angeles mit zu erleben.
„Die virtuelle Realität gibt Menschen die Möglichkeit, ein Headset aufzusetzen und über das Erstellen einer Aufnahme im klassischen Nachrichtenjournalismus hinaus zu blicken„, sagt Long und merkt an, dass die Technologie sowohl neue Erzählmöglichkeiten schafft als auch neue ethische Fragen für Non-Fiktion-Autoren aufwirft.
Weil die virtuelle Realität Animationen verwendet, um Real-Life-Szenen nachzubilden, können Gestalter auswählen, welche Teile einer komplexen Geschichte dargestellt werden und welches Sichtfeld der Betrachter erhält, in das er sich am besten hineinversetzen kann. Zum Beispiel sagt Long, dass eine umfassende Neuerschaffung der Unruhen in Ferguson, Missouri die Gewalt aus der Perspektive eines Demonstranten zeigen könnte – oder eine virtuelle Realität aufbauen, in der „man ein Bereitschaftspolizist ist und von Leuten umgeben wird, die einen anschreien„.
Es könnte aber auch eine verzerrte Version der Realität erschaffen werden, die absichtlich oder unabsichtlich die Betrachter täuscht.
„Stell dir vor, die Regierung würde versuchen, die Welt davon zu überzeugen, dass in Ferguson alles gut lief„, erzählte Long in einem Telefoninterview. „Es besteht also die Möglichkeit des Missbrauchs von ‚virtueller Propaganda‘„.
Umwälzende Technologie oder Kuriosität?
Nicht gerade überraschend prophezeit Long, dass sich der Virtual Reality-Journalismus anfänglich sehr viel um die Nachrichten, die auch genügend Videospiel-Mittel liefern, kreisen wird – wie etwa das Eintauchen in Kriegsgebiete.
Aber Syracuse Universität-Professor Dan Pacheco, der als Berater an der Gannett-Farm-Vorführung gearbeitet hat, sieht letztendlich eine Vielzahl von anderen Verwendungen dafür. Er sagt, dass die virtuelle Realität den Reisejournalismus umgestalten kann und damit Journalisten erlaubt, historische Ereignisse nachzubilden, Wissenschaftsreportern dabei helfen, den potentiellen Meeresspiegelanstieg darzustellen, und Sportfans erlaubt, den World Cup oder andere populäre Events „virtuell zu besuchen„.
„Das ist ein Wachstumspotenzial für jeden, der Interesse am Storytelling hat„, sagte Pacheco im Telefoninterview. „Das ist eine Chance, um vom Storytelling zu Story-Erfahrungen überzugehen„.
Pacheco sieht auch durch Produktplatzierungen und andere virtuellen Anzeigen Umsatzmöglichkeiten in der Technologie. Dies ist nicht gerade von geringer Bedeutung für ein Unternehmen wie Gannett, das einen stetigen Rückgang der Print-Werbeeinnahmen erfährt, kürzlich eine weitere Runde von Entlassungen in der Nachrichtenabteilung durchgeführt hat und nun plant, nächstes Jahr seine Digital- und Rundfunk-Abteilungen von seiner finanziell angeschlagenen Zeitungsbranche zu trennen.
Aber nicht alle Branchenbeobachter teilen Pachecos Optimismus über den Virtual Reality-Journalismus.
„Ich lobe das Vorwärtsdenken„, sagte Nora Paul, Journalistikprofessorin an der Universität zu Minnesota, „aber ich denke, das ist definitiv etwas, was eine Kuriosität bleiben wird„.
Paul, ein ehemaliges Poynter Fakultätsmitglied, hat sich mit der Wirkungsweise von Computerspielen im Journalismus auseinandergesetzt und sagt dazu, dass es schwierig sei zu prognostizieren, ob die virtuelle Realität ein effektiver Weg zum Erzählen von Nachrichten werden könnte. Sie sagt, dass frühere Versuche, die Spieletechnologie mit der Nachrichtenberichterstattung zu kombinieren, gemischte Ergebnisse hervorbrachten.
„Die meisten Menschen empfinden das Aufsetzen einer Spiele-Hülle über ernsthaftem Nachrichten-Content als Ablenkung„, sagte Paul, „und Spieler waren nicht interessiert daran, weil es eindeutig kein besonders anspruchsvolles Spiel war„.
Fürs Erste, sagt Gannett, ist das Des Moines-Projekt ein einmaliges Experiment und das Unternehmen hat noch nicht entschieden, ob es weiterhin an der virtuellen Realität arbeiten wird.
Um Leser-Reaktionen besser abschätzen zu können, sagte Gelman, dass die Register Rathaus-Konferenzen oder andere Events abhalten könne, bei denen Des Moinesers die Möglichkeit haben werden, Headsets zu verteilen und damit die Farm-Tour zu erleben. Er sagte, er sei insbesondere daran interessiert, Feedback von der Zielgruppe zu der Vorführung zu hören.
„Ich habe viel durch das Beobachten gelernt, wie mein 10-Jähriger es aufgefasst hat„, sagte Gelman.
Dieser Beitrag wurde zuerst auf Poynter.org veröffentlicht und erscheint hier mit freundlicher Genehmigung des Autors in deutscher Sprache.
Image (adapted) „Orlovsky and Oculus Rift“ by Sergey Galyonkin (CC BY-SA 2.0)
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Schlagwörter: Gannett, journalismus, Medienwandel, Nachrichten, Oculus Rift, virtuelle Realität