Politische und wirtschaftliche Entscheider des Westens sollten endlich anfangen, das Denken und die Kultur in China tiefgründig zu verstehen. „In der westlichen Welt scheint man zu meinen, Hintergrundwissen über die Volksrepublik China sei überflüssig, es genüge, von Fall zu Fall die Tagesereignisse zu verfolgen und mit westlichen Alltagswissen ad hoc zu reagieren“, so die Erfahrung von Professor Harro von Senger. Welchen Stellenwert die Parteinormen der Kommunistischen Partei China und das Gesetzesrecht der Volksrepublik China haben, stellt von Senger in seinem Buch „Supraplanung“ dar: „Wenn man nur schon die Verfassungsartikel zur Kenntnis nehmen und in ihrer vollen Tragweite begreifen würde, dann würde vieles, was in der politischen Tagespraxis geschieht, durchschaubar und leicht vorhersehbar werden. Aber leider werden offizielle Dokumente der Volksrepublik China im Westen regelrecht boykottiert und planmäßig nicht gelesen oder mit einem Lacher abgetan. Sie seien das Papier nicht wert, auf dem sie stehen.“
Parteinormen ohne Verhüllungsrhetorik
Anstatt zu glauben, China sei ein Willkürstaat, in dem jeder Funktionär „pragmatisch“ mache, was ihm gerade einfalle, könnte man China aus der Sicht der generell-abstrakten Parteinormen, die teilweise über Jahrzehnte hinweg Geltung beanspruchen, betrachten. „Anstatt also mühsam und arbeitsaufwendig auf induktivem Weg, durch Feldforschungen, Umfragen, Interviews, Inspektionsreisen, die Sammlung und Auswertung von Einzeleindrücken allmählich gewisse Verhaltensmuster herauszukristallisieren, die Chinas Aufbau erklären, könnte man umgekehrt eine vergleichsweise arbeitssparende Methode einsetzen. Sie bestünde darin, das, was in China unter amtlicher Leitung vor sich geht, deduktiv, aus der Sicht der geltenden generell-abstrakten Partei- und Gesetzesrechtsnormen wahrzunehmen“, so von Senger. Dann verstünde man über Jahre und Jahrzehnte hinweg eine riesige Zahl von durch die Partei gelenkten Einzelvorgängen. Dazu zählt etwa das Programm Internet Plus. „Von einem Werkplatz der Welt zu einem Pionier und Taktgeber im Bereich der Digitalisierung schreitet das 1,3 Milliardenvolk scheinbar unaufhaltsam voran. Das wird im Westen kaum wahrgenommen. Doch wir müssen uns auf die Transformationen der Volksrepublik zu einer Digital-Großmacht, zu einer Konsumgesellschaft und zu einem zunehmend urbanisierten Land rechtzeitig einstellen. Smart-Phone- Gesellschaft, e- und m-Commerce, Bezahldienste, grüne Energien und zukunftsgerichtete Verkehrs- und Gebäudelösungen. China ist auf dem Weg, unser traditionelles Vorgehen der kontinuierlichen, technologiegetriebenen Weiterentwicklung in punkto Geschwindigkeit und Umsetzungskraft in den Schatten zu stellen“, erläutert von Senger im Netzpiloten-Interview. Gleiches gilt für die Strategie der Kommunistischen Partei, in der globalen Expansion nicht nur über Joint Venture-Projekte Modernisierungspotenzial aus dem Westen abzuziehen. Man setzt jetzt darauf, Unternehmen im Ausland zu kaufen, um an Technologien und an ausländische Kunden heranzukommen.
Jede westliche Führungskraft, die sich mit Geschäften in China beschäftigt, sollte die Parteidokumente und die parteiamtlichen Dokumente kennen, rät von Senger.
Zudem sollte man auch Kommentare zu amtlichen Normativtexten studieren. So etwa das 375 Seiten starke Opus ‚Die grosse Fusion und die grosse Transformation‘ (Beijing 2015). Hier findet man unverzichtbare Erläuterungen zu den «Wegleitenden Ansichten des Staatsrates der Volksrepublik China betreffend die aktive Förderung des Programms ‚Internet plus‘ vom 4. Juli 2015. Wer das liest, erkenne sehr schnell, dass es in Peking keine Verhüllungsrethorik gibt. Wir könnten also sehr genau wissen, was die Führungsgarde der Kommunistischen Partei, die den chinesischen Staat lenkt, denkt und plant. Für ein tiefgründiges Verständnis dessen, was in der Volksrepublik China vorgeht, unverzichtbar sind auch Grundkenntnisse von dem im Westen allerallerallerunbekanntesten Aspekt der Volksrepublik China, nämlich vom Sinomarxismus. Ihn bezeichnet die Kommunistische Partei Chinas in ihrer – im Westen ignorierten – Satzung als „Richtschnur“ ihres Handelns.
Die im Westen unbekannten Polaritätsnormen und Strategeme
Dass Ausländisches in der Volksrepublik China Überhand nimmt, wird die Kommunistische Partei China niemals zulassen. Es geht um die Befolgung der von Mao Zedong 1964 festgelegten Polaritätsnorm: „Ausländisches für China nutzbar zu machen, wobei China den Ton angibt“. Im Wirtschaftsverkehr mit dem Ausland bedeutet das konkret: „Vom Import zum Export, vom Lernen zur Neuschöpfung“. Hier kommt Maos sinomarxistische Dialektik zum Einsatz: „Alles Ausländische muss so behandelt werden wie unsere Speise, die im Mund zerkaut, im Magen und Darm verarbeitet, mit Speichel und Sekreten des Verdauungsapparates durchsetzt, in verwertbare und wertlose Bestandteile zerlegt wird, worauf die Schlacken ausgeschieden und die Nährstoffe absorbiert werden, sodass unser Körper Nutzen von der Speise hat; das Ausländische darf keineswegs mit Haut und Haaren roh verschlungen, kritiklos einverleibt werden.“ Die genannte Polaritätsnorm soll verhindern, dass Ausländer in der Volksrepublik je das Strategems Nr. 30 „Die Rolle des Gastes in die des Gastgebers umkehren“ anwenden könnten. Peking wird westliche Unternehmen nur tolerieren, solange sie den Zielen der Kommunistischen Partei nutzen und sich in die Gastrolle fügen. Natürlich werden auch politische Interventionen aus dem Westen abgeblockt. Hiesige Entscheider täten gut daran, nicht nur das Strategem Nr. 30, sondern alle 36 Strategeme aus dem Reich der Mitte genau zu studieren. Wer die Denksysteme des Reichs der Mitte kennt und sich zu Nutze zu machen weiss, kann in der Volksrepublik China mit Aussicht auf langfristigen Erfolg Geschäfte machen. Zur Vertiefung empfiehlt das Notiz-Amt folgende Werke:
- Harro von Senger: Moulüe – Supraplanung, München 2008
- Harro von Senger: 36 Strategeme, Frankfurt am Main 2011
- Harro von Senger: Meister Suns Kriegskanon, Stuttgart 2011
- Harro von Senger: Die Kunst der List, 5. Aufl., München 2016
- Harro von Senger: 36 Strategeme für Manager, 5. Aufl., München September 2016
- Harro von Senger, Marcel Senn (Hg.): Maoismus oder Sinomarxismus?, Wiesbaden 2016
- Bericht zum Vortrag von Sengers am 2. September 2016
Homepages:
Image (adapted) „Traffic.“ by Jakob Montrasio (CC BY 2.0)
Artikel per E-Mail verschicken
Schlagwörter: Kommunistische Partei China, Kultur, Normen, Peking, Sinomarxismus, Verfassung, Volksrepublik China