Videokolumne vom 23. Februar 2014

In der Videokolumne geht es heute um
einen besonnenen Professor, eine quirlige Großstadtclique und
brechende Gletscher. Am Ende fährt ein Hund Auto. // von

Hannes Richter

Kein Täter werden - Screenshot

Wie geht die Gesellschaft mit
Pädophilen um? Diese Frage wird wieder heiß diskutiert seit der
Fall Edathy die politische Szene durcheinander gewirbelt hat. Mit
dem Projekt Kein Täter werden hilft Professor
Dr. Dr. Klaus Beier Betroffenen dabei, ihrem Verlangen nicht
nachzugehen. In einem ungewöhnlich langen Interview erklärt er
seine schwierige Aufgabe. Der Klimawandel ist in vollem Gänge,
jedenfalls gewinnt man diesen Eindruck beim Betrachten des Videos
eines gigantischen Gletscherabbruchs. Und ob die Protagonisten des
quirligen Generationenporträts 3 Zimmer/
Küche/Bad
den Zerfall ihrer Freundschaft vor lauter
Ichbezogenheit noch aufhalten können, bleibt bis zum Schluss
spannend.


KEIN TÄTER WERDEN: Ausführliches
Interview mit Prof. Klaus Beier

Die
Affäre um den ehemaligen SPD-Bundestagsabgeordneten Sebastian
Edathy hat nicht nur das politische Berlin erschüttert. Plötzlich
ist auch wieder ein Thema ganz oben auf der Tagesordnung, von dem
die bunten Blätter genauso wenig genug bekommen können, wie die
„besorgten“ Facebook-User und Kommentarschreiber im Netz. Hier wird
unverhohlen zum Mord an für Verbrechen gegen Kinder verurteilte
Menschen aufgerufen, ihre Kastration gefordert oder aus der Haft
entlassenen Straftätern das Leben zur Hölle machen. Natürlich
bewegt das Thema die Gemüter und jeder Fall, der an die
Öffentlichkeit kommt, sorgt für Bestürzung. Viel zu oft
verschwinden aber besonnene Stimmen und ernsthafte Lösungsansätze
hinter Hysterie oder, wie in der aktuellen Affäre, den schmierigen
Versuchen der Großkoalitionäre vom geschleudertem Dreck so wenig
wie möglich abzubekommen. Eine solche Stimme ist die von Professor
Dr. Dr. Klaus Beier, der an der Berliner Charité das Projekt
Kein Täter werden betreut. An ihn können sich
anonym Menschen werden, die sich zu Kindern hingezogen fühlen und
Hilfe benötigen, damit sie ihre Neigung nicht ausleben. Das Projekt
ist durch aufwühlende Kinospots bekannt
geworden. Die Journalistin Heike Faller hat im letzten Jahr in der
Zeit das bewegende Porträt eines Mannes gezeichnet, für den das
Vorgängerprojekt Dunkelfeld ein rettender Anker wurde.

Professor Beier wird häufig von Journalisten angefragt,
wenn es um das Thema sexuellen Missbrauch geht. Er erklärt dann mit
ruhiger Stimme die Ansätze seines Projekts. Inzwischen ist
Kein Täter werden so bekannt, dass er auch in
einige Talkshows eingeladen wird. Aber nirgends hatte der
Sexualwissenschaftler bisher die Gelegenheit, so ausführlich die
Hintergründe seiner Arbeit und das Phänomen Pädophile von der
wissenschaftlichen Seite zu erläutern wie bei KenFM. Der
Macher des unabhängigen Youtube-Kanals Ken Jebsen fiel bisher durch ganz
andere Themen auf. Seine harsche Kritik an Israel hat den für seine
im monotonen Staccato vorgetragen politischen Monologe bekannten
Moderator 2011 seinen Job beim Jugendsender
Fritz gekostet, der Berliner
Tagesspiegel bezeichnet ihn als
Verschwörungstheoretiker. Doch ähnlich wie Tilo Jung mit seiner
Netzsendung Jung & Naiv erreicht er mit
seinen Meinungs- (und auch sehr auf seine Person ausgerichteten,
sozusagen Ken-Jebsen-) starken Formaten eine Gruppe oft junger
Menschen, die sich in der klassischen Politikberichterstattung
nicht wieder finden und hält damit eine spannende, unabhängige Form
von Journalismus im Netz am Laufen. Dass das auch gut funktionieren
kann sieht man an diesem Interview. In welchem Fernsehformat ist es
vorstellbar, 90 Minuten lang einer Persönlichkeit wie Professor
Beier zuzuhören? Zugegeben, die Länge ist schon ein bisschen
problematisch, aber Jensens Nachfragen halten den Gesprächsfluss am
Laufen, klug begibt er sich in die Rolle des lernenden Zuschauers
und lässt den Professor in aller Ruhe von seiner wichtigen Arbeit
berichten.


ERLEBBARER
KLIMAWANDEL: Chasing
Ice
captures largest glacier
calving

„It begins with a growl“:
Man kann schon ahnen, was gleich passieren wird, aber die Dimension
des massiven Natur(?)-Ereignisses wird erst später klar. 17 Tage
lang hat ein Beobachtungsteam schon seine Kameras auf einen
Gletscher gerichtet, als es plötzlich zu krachen anfängt und ein
Teil des gewaltigen Eismassivs abbricht. Einige Minuten vergehen
mit diesen Aufnahmen, bis eine Sprecherstimme anfängt, das Ereignis
einzuordnen. Fast 200 Meter hoch schießen die Eisbrocken durch die
Hebelwirkung der fallenden Masse aus dem Wasser und landen Sekunden
später mit diesem krachenden Geräusch, das bis ins Mark dringt.
Schon diese Zahl ist unvorstellbar, beim Betrachten des Videos ist
es schlicht unmöglich, die tatsächlichen Größenverhältnisse zu
erfassen. Das ändert sich, als am Ende eine grafische Darstellung
der Insel Manhattan auf ein Standbild des Gletschers projiziert
wird. Die sprichwörtliche Meer aus Wolkenkratzern ist sogar noch
kleiner, als der Bildschirmausschnitt, den wir in den viereinhalb
Minuten Zeitraffermaterial (der Abbruch dauerte in Echtzeit 75
Minuten) betrachtet haben.
Das Video ist Teil der
bilderstarken Dokumentation Chasing Ice, die
bereits auf mehreren Festivals ausgezeichnet wurde. Für die Macher
sind solche gewaltigen Abbrüche Folgen des von Menschen gemachten
Klimawandels. Die Aufnahmen führen einem erschreckend eindringlich
vor Augen, worauf sich die Menschheit wohl einstellen muss. Oder
wie es am Ende dieses Artikels, in den das Video eingebettet ist,
steht: „A lot of water. Coming our way.“


JUNGE MENSCHEN BEIM UMZUG: 3
Zimmer/Küche/Bad

AUS DER
MEDIATHEK – arte +++ Sendung vom 21. Februar, abrufbar bis 28.
Februar
: Eben erst hat das Filme machende
Geschwisterpaar Anna und Dietrich Brüggemann auf der Berlinale den
Silbernen Bären für das beste Drehbuch gewonnen. Eine Überraschung,
ist doch ihr Film Kreuzweg bei der Kritik eher
mau aufgenommen worden. Auf meinem Festivalplan befand sich das
Epos, in dem die 14-jährige Fundamentalchristin Marie die 14
Stationen des Kreuzwegs Jesu absolviert, jedenfalls nicht. Es wäre
also unredlich, ihn ungesehen schlecht zu machen, eines ist aber
sicher: die bezaubernde Leichtigkeit, mit der die beiden im Jahr
2012 ihren letzten gemeinsamen Film 3
Zimmer/Küche/Bad
ausgestattet haben, wird dort nicht zu
finden sein. Das quirlige Generationenporträt erzählt die
Geschichte von acht jungen Menschen, die alle gerade umziehen. Sie
helfen sich beim Kistenschleppen, schlagen, vertragen und lieben
sich und drehen sich doch immer irgendwie nur um sich selbst. In
der Filmbeschreibung bei arte klingt das so:
„Philipp will Fotografie studieren. Wiebke will eine Beziehung.
Jessica will, dass sich alles ändert, und Maria will, dass alles so
bleibt, wie es ist. Swantje will die Wahrheit wissen, Michael weiß
nicht, was er will, und Thomas will nichts.“
Ziemlich
treffend dieser Abriss, geht es hier doch weniger um einen
abgeschlossenen Bogen als um eine episodenhafte Draufsicht auf die
Rastlosigkeit der Millenials, das Umziehen wird zur Metapher. Ein
toller Film über, naja, irgendwie: uns.


Viral Pick: The
World’s First Driving Dog.

Mein
Problem mit viralen Videos ist ihre Kurzlebigkeit. Nicht nur die
Videos selbst und ihre oft hunderten Nachahmer sind häufig schnell
vergessen (Hallo, Gangnam-Style?), auch die Gags (und
wenn es nicht süß ist, ist es eigentlich immer: lustig) verpuffen
schnell. Hier tauchen sie deshalb selten auf. Fahrende Hunde passen
einfach nicht so gut zu weltbewegenden Problemen wie das Schmelzen
der Gletscher oder Wiebkes alter Waschmaschine (3
Zimmer/Küche/Bad
). Manches wiederum ist doch
zu schön, um unerwähnt zu bleiben, weshalb es am Ende dieser
Kolumne nun den Viral Click geben wird und der Titel schon klar
macht, dass es hier um ein Video geht, das viele Leser und
Leserinnen schon kennen werden (noch so ein Problem!) und das ohne
Gewissensbisse bis zur nächsten Woche vergessen werden kann. Auf
Geschmack wird dabei trotzdem geachtet. Deswegen gibt es in dieser
Woche nicht den singenden Herren aus der leider sehr wirksamem
aktuellen Kampagne eines Supermarktes, sondern diesen Hund, der
inzwischen schon ein Jahr lang durch’s Netz fährt. Mit einem Auto.
In echt.
Das schöne an der Geschichte: das Video mit
dem rasenden Hund ist von einer Organisation produziert, die
Straßenhunde vermittelt, und soll zeigen, wie clever Hunde sein
können. Meinen würde ich deswegen trotzdem nicht zum Einkaufen
schicken, das inzwischen über 10 Millionen Mal geklickte Video
macht aber trotzdem Spaß.


Teaser by
Paulae (CC BY 3.0)

Image
Screenshot Kampagne Kein Täter werden (https://www.youtube.com/watch?v=p0UfHeuRg6A)


wanderte schon früh zwischen den Welten, on- und offline. Der studierte Kulturarbeiter arbeitete in der Redaktion eines schwulen Nachrichtenmagazins im Kabelfernsehen, produzierte Netzvideos und stellte eine Weile Produktionen im Cabaret-Theater Bar jeder Vernunft auf die Beine, bevor er als waschechter Berliner nach Wiesbaden zog, um dort am Staatstheater Erfahrungen im Kulturmarketing zu sammeln. Er baute später die Social-Media-Kanäle der Bayreuther Festspiele mit auf und schoss dabei das erste Instagram-Bild und verfasste den ersten Tweet des damals in der Online-Welt noch fremden Festivals. Seitdem arbeitete er als Online-Referent des Deutschen Bühnenvereins und in anderen Projekten an der Verbindung von Kultur und Netz. 


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