Video verändert die Medienlandschaft: Die TV-Autonomen kommen

Do-It-Yourself-Fernsehen bildet die Realität nicht nur ab, sondern bietet echten Einblick. Was diese Entwicklung für ein Potenzial hat, zeigt eine revolutionäre Erfindung der alten Griechen.

Eine Welt verändert sich, wenn sich die Medien ändern, meinte der Schriftsteller Walter Benjamin.

Und vielleicht sind es gar nicht so gravierende Veränderungen, die zu einer gesellschaftlichen Veränderung beitragen. Zu dieser Auffassung neigt auch der Philosoph Peter Sloterdijk im Gespräch mit Hubert Burda – veröffentlicht in dem Band „IN MEDIAS RES – Zehn Kapitel zum Iconic Turn“:

„Die Griechen haben ja bekanntlich zu den orientalischen Schriftsystemen, die reine Konsonantenschriften gewesen sind, eine kleine Erfindung hinzugefügt, die aus der historischen Entfernung genauso geringfügig erscheinen könnte wie der Übergang bei Gutenberg zum Druck mit den beweglichen Lettern.“

Es geht um die Erfindung des autonom lesbaren Textes, weil man zum ersten Mal die Stimme des Autors rekonstruieren konnte – es geht eben um Vokale. Für die Entzifferung der Konsonantenschrift brauchte man immer einen Vorleser, der sagt, wie der Text gesprochen werden muss – „ein Sachverhalt, der im Hebräischen bis auf den heutigen Tag fortbesteht“, so Sloterdijk. Tendenziell sei der europäische Leser also ein autonomer Leser. „Oder anders ausgedrückt, ein Autodidakt, der auf eigene Faust die Stimme der Ahnen entziffern kann“, erklärt Sloterdijk.

Autodidaktische TV-Produzenten

Und das beschränkt sich schon lange nicht mehr auf das Lesen. Selbst für bewegte Bilder steht das Handwerkszeug für den digitalen Autodidakten bereit, der heute ohne Ü-Wagen, ohne Ausbildung zum Kameramann oder zur Kamerafrau und ohne schweres technisches Gerät Fernsehen machen kann. Zu jeder Zeit, an jedem Ort.

Videokommunikation ist spätestens seit den Erfolgen von Diensten wie Skype oder Google-Hangout ein beherrschendes Thema für Beruf und Freizeit: Die Popularität dieser Angebote führt auch zu einer stärkeren Nachfrage nach technischen Lösungen, die speziell auf Unternehmen zugeschnitten sind. Davon ist Produktmanager Johannes Nowak vom ITK-Spezialisten Aastra überzeugt: „Vor allem die Erfahrungen aus der privaten Nutzung übertragen sich auf die Wirtschaftswelt.“

Pro Minute werden auf YouTube mittlerweile 72 Stunden Videomaterial hochgeladen, so Google-Sprecher Stefan Keuchel. 77 Prozent der Internet-Nutzer in Deutschland schauen Online-Videos. 50 Prozent sehen Filme und 47 Prozent schauen bei Live-Events über das Internet zu, in beiden Fällen etwa zwölf Prozent auf mindestens wöchentlicher Basis. Das ist das Ergebnis einer Umfrage im Auftrag des Bundesverbands Digitale Wirtschaft (BVDW).

Bei der jüngeren Bevölkerungsgruppe geht es dabei weniger um reine Download-Angebote, sondern um Streaming-Dienste. „Diese Entwicklung wird durch Social Media und Social TV weiter gesteigert, sodass rund um Bewegtbildinhalte die zwischenmenschliche Kommunikation begünstigt wird“, sagt Holger Schöpper, Sprecher des Forums Bewegtbild im BVDW.

„Video ermöglicht eine persönlichere Kommunikation, als es das geschriebene Wort jemals bieten kann. Und anders als beim geschriebenen Wort, benötigt Video keine Vorbildung, keinen Duden und keine Schönschrift. Video ist keine Abbild, sondern ein echter Einblick in unser Leben. Video ist gelebte Kulturtechnik“, so Markus Hündgen (@videopunk) in einem Beitrag für die aktuelle Wired-Ausgabe.

Angriff auf die Bastion des klassischen Fernsehens

Streaming-Dienste wie Hangout on Air sind die technische Basis für Jedermann-TV. Selbst die massenmediale Bastion des klassischen Fernsehens ist vor der Eigendynamik der autonomen TV-Produzenten nicht mehr sicher. Was bewirkt die Graswurzel-Talkultur? Werden auch die liebwertesten TV-Gichtlinge Opfer der zerstörerischen Kraft des Digitalen? Bislang wird ja das sogenannte Social TV in der Kategorie des „Second Screen“ gesehen – also als Begleitmedium für TV-Sendungen, wo etwa über Twitter „Wetten, dass ..?“ mit Markus Lanz hoch und runter kommentiert wird. In der Streaming-Wundertüte steckt mehr drin.


Mehr zu Themen des Netzes und dem digitalen Wandel gibt es auch vom European-Kolumnisten Lars Mensel in seinem aktuellen Artikel „Die Vorteile von freier Software: Steve Jobs entscheidet für Sie“.


Text: Der Artikel „Videokommunikation verändert die Medienlandschaft: Die TV-Autonomen kommen“ von Gunnar Sohn ist zuerst erschienen auf www.theeuropean.de


 


ist Diplom-Volkswirt, lebt in Bonn und ist Wirtschaftsjournalist, Kolumnist, Moderator und Blogger. Mitglied des Netzpiloten Blogger Networks.


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