Vive la France und Viva Technology! In unserer Artikelreihe haben wir euch in den letzten Wochen schon darauf eingestimmt und jetzt waren wir tatsächlich in der Stadt der Liebe zu einem der europäischen Tech-Events des Jahres, der VivaTech, welches in seinem erst zweiten Jahr bereits 50.000 Besucher anlocken konnte.
Zahlreiche Besucher sind ebenfalls zu den Startups gepilgert, einem der Standbeine der VivaTech. Wirft man einen Blick über den Hallenplan, sieht man sich quasi überall umgeben von diversen – manchmal pseudo–trendigen Startups. Rund die Hälfte des Messegeländes ist den Startups gewidmet und namhafte Firmen geben ihnen durch eine Kooperation die entsprechende Plattform auf der Messe.
Diese Stände locken die Besucher dann mit knuddeligen Robotern, oft überflüssigen Virtual-Reality-Demos – für eine durfte ich mich in einen Windkanal stellen um lediglich eine PowerPoint-Präsentation in der virtuellen Realität zu betrachten – und – ja tatsächlich – Fidget Spinner. Und genau das ist sowohl die große Stärke als auch die Schwäche der VivaTech – und nein, nicht die Fidget Spinner, sondern die schiere Größe.
Viel Show – wenig Innovation?
Die VivaTech ist groß bunt und laut, aber ist sie auch innovativ? Quantität ist ja nicht gleich Qualität und wenn man den Blick einmal durch die Startup-Stand-Reihen schweifen lässt, kriegt man nach dem 25. Pepper-Roboter auch irgendwann den Tunnelblick. Versteht das nicht falsch, die Startup-Kultur ist etwas tolles und Frankreich und Paris platzieren sich mit dem Angebot auf der VivaTech definitiv mit beiden Beinen im europäischen Vergleich zu beispielsweise Berlin, Dublin und London. Trotzdem hat man alles zu künstlicher Intelligenz oder Virtual Reality schonmal irgendwo gehört oder gesehen und es stellt sich aber die Frage, wo bei all dem Schall und Rauch um Gimmick-Roboter und die ach-so-neuere-und-bessere VR-Anwendung die Innovation bleibt.
Groß, bunt und laut ist auch die VivaTech Main Stage, diese kann locker mit Konsorten wie den Apple-Präsentationen oder der gleichzeitig zur diesjährigen VivaTech stattfindenden E3 mithalten. Auch das Speaker-Angebot kann beeindrucken – volles Haus gab es bei Eric Schmidts „Case of Optimism“, bei dem der Vorsitzende von Alphabet hoffnungsvolle Worte mit dem Publikum zur Zukunft der Arbeit teilte und in denen er der Meinung war, dass die digitale Transformation auch Arbeit schaffen würde, als vieles durch künstliche Intelligenz zu ersetzen und dass die zwischenmenschliche Kommunikation durch bspw. Messenger doch wieder eher zusammenwächst, als dass sie sie trennen würde.
Beim Panel mit dem Titel ‚Future of Entertainment‘ gaben sich führende Persönlichkeiten die Ehre, wie Gilles Pélisson, CEO vom französischen Medienunternehmen TF1 oder Bob Bakish, dem CEO von Viacom. Namedropping und Show können sie auf der VivaTech, große Worte zu großen Themen wie Energie, Entertainment und künstlicher Intelligenz gab es auf der Main Stage en masse, aber viel Neues und Innovatives habe ich dort auch nicht gehört.
Wenig Neues, aber viel Menschlichkeit
Die spannenden, disruptiven Themen fanden für mich eher auf den kleineren Stages statt, die sich über die Messe verteilten. Dort wurde dann auch über die Themen gesprochen, die bereits die VivaTech Organisatoren Maxime Baffert und Yael Kusch-Stassart in unserem Interview so betonten, wie ‚Women in Tech‘ oder alles zu ‚Techfugees‘.
Auf der bescheideneren Stage 2 traf ich dann auch auf das Panel ‚How tech is improving the lives of refugees‘, das von Joséphine Goube von der Organisation Techfugees geleitet wurde und Geflüchtete aus Kroatien, Jordanien und Griechenland per Konferenz-Call dazuschaltete, um mit ihnen über ihr technisches Engagement zu reden.
Das Ziel der gemeinnützigen Organisation ist es, zusammen mit Geflüchteten eine Community rund um das Thema Tech zu schaffen und die gemeinsame Begeisterung für Technologie für einen humanitären Zweck zu nutzen. Wie wichtig Technik für Menschen in solchen Situationen ist, wird erst klar, wenn einer der Panel-Teilnehmer erwähnt, dass die Geflüchteten noch vor Essen und Wasser nach WiFi fragen. Joséphine kommentiert, dass das viele überrascht, aber für sie gibt es daran nichts überraschendes, „wenn man vor dem Tod flieht nimmt man sein Smartphone, die Leute müssen verstehen, welche Strapazierfähigkeit es den Menschen gibt, wenn sie mit ihren Familien in Kontakt bleiben können.“
Nachgefragt bei Joséphine Goube, CEO von Techfugees
Erzähl uns ein bisschen von deiner Organisation Techfugees.
Techfugees ist eine international agierende, nichtstaatliche Organisation, die sich in eine Bewegung aus Techies, Datenwissenschaftlern, Ingenieuren und vielen weiteren entwickelt hat, die ihre Fähigkeiten nutzen möchten um Technologie mit und für Flüchtlinge zu erschaffen. Wir möchten mithilfe von Technik Flüchtlingen Zugang zu Informationen, Bildung, der Arbeitswelt, zum Gesundheitswesen und der Gesellschaft zu geben.
Wie bist du mit dem Thema in Kontakt gekommen? Gab es einen Moment, an dem du gedacht hast: „Ich muss jetzt etwas tun”?
Ich bin jetzt seit sechs Jahren in der Technikbranche. Ich habe 2012 eine Firma mit fantastischen Kollegen gegründet, in der wir eine Technologie entwickelt haben, die einer künstlichen Intelligenz ähnelt. Unsere KI ist einfach erklärt ein Algorithmus, der für Migranten entwickelt wurde und ihnen helfen soll, Visas zu beantragen.
Innerhalb dieser Arbeit haben wir etwas herausgefunden. Denn wenn man die Formulare und Prozesse lesen und verstehen muss, damit man sie dem Algorithmus beibringen kann, stellt man fest, wie schwierig dieser Prozess ist und dass der Rassismus in diesen Gesetzen regelrecht festgesetzt ist. Das ist der Grund, warum viele Flüchtlinge lieber ein Boot nehmen, statt einen Antrag auf ein Visum zu stellen, weil sie wissen, dass sie, obwohl sie vielleicht sogar die richtigen Dokumente vorliegen haben, abgelehnt werden.
So bin ich regelmäßig mit Menschen in Kontakt, die versuchen, ein Visum zu bekommen, oder die ein Boot genommen haben und als Flüchtlinge in ein Land einreisen. Und diese Umstände haben mich immer mehr verärgert, da meine Technologie nicht genug war und das Problem viel tiefer saß. Und so dachten wir, wir brauchen viel mehr Menschen, die mehr Technologie erschaffen als nur eine einzige KI, die Nutzern hilft, Visums-Anträge zu stellen. Wir brauchten Menschen, die den Flüchtlingen sichere Routen nennen können, und die dafür sorgen, dass sie keine Schmuggler bezahlen müssen. Menschen, die ihnen helfen, sich zu vernetzen, die Informationen vermitteln und viele weitere Dinge tun können.
Mike Butcher von TechCrunch wurde darauf aufmerksam und hat auf Facebook gefragt: “Was können wir mit Technologie für Flüchtlinge tun?”. Da habe ich beschlossen, seinem Team beizutreten und etwas zu entwickeln, so dass diese Masse an Menschen denen helfen kann, um die sich gerade nicht gekümmert wird. Und diese Gruppe ständig an – wir haben immer mehr Mitglieder und unzählige talentierte Leute.
Würdest du sagen, dass die VivaTech eine besonderes gute Plattform für dieses Thema ist?
Wo, wenn nicht hier, ist das technikaffine Publikum, die sich darüber austauschen? Wenn ich auf die Bühne gehe und von meinem Projekt erzähle, werden sie es verstehen. Diese Konzentration finde ich nicht, wenn ich vor einem Publikum aus dem humanitären Sektor spreche, oder Politik. Dort werden sie einen Großteil der Dinge nicht sofort verstehen. KI, Blockchain, Chatbots – sie haben vielleicht eine grobe Ahnung, wovon ich rede – oder sie schweigen und tun nur, so als ob sie mich verstehen.
Die VivaTech dagegen ist ein sehr guter Ort, um Gleichgesinnte zu finden und zu rekrutieren. Wir hatten zum Beispiel auch einen Flüchtling, der sein eigenes Startup gegründet hat, das Flüchtlinge unterstützt. Um noch mehr dieser Menschen zu finden ist es wichtig, die Aufmerksamkeit auf diese Bereiche zu werden und zu zeigen: „Schaut, Flüchtlinge tragen zu unserer Gesellschaft bei, und zwar auf einem legalen Weg.“
Das Projekt stellt außerdem ein gute Möglichkeit dar, um ein ichtiges Thema noch besser sichtbar zu machen. Besonders im Techniksektor findet sich so viel Entertainment, Gaming, Sport und ähnliches, die Aufmerksamkeit ist eher auf die nicht wichtigen Dinge gerichtet. Innerhalb der Branche passiert aber so viel. Wir kennen mittlerweile Tricks, um das Dopamin-Level eines Nutzers nur mithilfe eines Instagram-Posts zu steigern. Deswegen ist es wichtig, auf Veranstaltungen wie diese, wo viel Disruption und Potential herrscht, teilzunehmen.
Resümee: Alles so schön bunt hier. Es gibt aber auch Wichtiges.
Inmitten all der bunten Stände, der Gimmick-haften Roboter, VR-Brillen oder riesigen Daddel-Touchscreens gibt es in diesem Jahr erstaunlich wenig Innovation. Wenn man jedoch genau hinsieht, enteckt man zwischen dem üblichen Tech-Messen-Einheitsbrei auch Themen abseits des Entertainment-Sektors, wie eben die Techfugees, die Technik wirklich disruptiv und humanitär anwenden.
Es spricht sehr für die VivaTech, auch Themen solcher Art zu unterstützen und ihnen eine Plattform mit derartiger Größe und Einfluss zu bieten. Auch wenn die Messe meiner Meinung nach noch mehr mit dem Strom der Trends als dagegen schwimmt – das ewige Streben der Tech-Messen nach Innovation resultiert wohl langsam in einer Art Berufsblindheit – ist das schiere Angebot und der Einfluss der Messe in der Techie-Szene, die sich gerade mal in ihrem zweiten Jahr befindet, schier beeindruckend.
Luft nach oben ist definitiv noch, doch die Messe scheint sich auf einem guten Weg zu befinden. Für weitere Stimmen aus dem Volke zur zweiten VivaTech folgt kommende Woche unser Destination Check, also Augen auf und à bientôt!
Images by Lisa Kneidl
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