Unsere Welt ist keine reine Marktwirtschaft – doch Ökonomen wissen nichts davon

Wir halten es für selbstverständlich, dass wir in einer Marktwirtschaft leben. Die reguläre Wirtschaft ist besonders mit dieser Idee verbunden. Tatsächlich basieren die Grundpfeiler auch hierauf und die Entwicklung von Angebot und Nachfrage sowie die Preisbalance ergeben außerhalb dieses Marktkontexts keinen wirklichen Sinn. Doch heute ist der Markt in großen Teilen des dynamischen Sektors unserer Wirtschaft entweder nicht vorhanden oder nur ein Teil der Sache.

Natürlich beinhaltet die digitale Wirtschaft Firmen wie Apple und Amazon, die Produkte auf dem Markt verkaufen. Sie umfasst aber auch gänzlich unterschiedliche Modelle. Das Internet ist das Reich der Geschenke. Die große Mehrheit der Seiten, die wir herunterladen, sind kostenlos – und Seiten wie Wikipedia sind komplexe Beispiele für eine aktive Schenkökonomie.

Einige der erfolgreichsten kommerziellen Unternehmen, wie zum Beispiel Google und Facebook, verlassen sich auf Geschäftsmodelle, die Schenkungspraktiken mit dem freien Markt vermischen. Die Waren, die sie verkaufen, sind völlig von den Geschenken abhängig, die sie verteilen.

Damit diese Formen der Schenk- und Hybridwirtschaft sinnvoll eingesetzt werden können, entwickelt meine Forschung des kalkulatorischen Gewinns und der Schenkungs- und Digitalwirtschaft die Idee, dass wir die Wirtschaft als eine miteinander interagierende Mischung aus Marktpraktiken und und deren gegenteiligen Aktionen betrachten sollten.

Die Schenkökonomie in Aktion

Wikipedia, die größte und meistgenutzte Enzyklopädie, die die Welt jemals gesehen hat, ist ein beispielhafter Fall für die digitale Schenkökonomie. Wikipedia dominiert diesen Sektor und hat mehr oder weniger das Aussterben der Enzyklopädien besiegelt, die man sich noch kaufen musste. Das ganze begann damit, dass Microsoft seine Encarta an Leute verschenkte, die sich einen Computer zulegten.

Wikipedia basiert im Allgemeinen auf drei Schenkungspraktiken: es bietet uns kostenlosen Zugang zu seinen Inhalten, diese Inhalte werden von Freiwilligen ohne Bezahlung redaktionell betreut und die laufenden Kosten werden aus Spenden finanziert. Sobald Arbeit ehrenamtlich verrichtet wird, gelten die alten Regeln nicht mehr. Die Redakteure von Wikipedia haben keine Manager über sich, die bestimmen, was sie nach den Regeln der Top-Down-Methode zu tun haben. Sie suchen sich ihre Aufgabe selbst und arbeiten in ihrer eigenen Geschwindigkeit. Die Qualität ihrer Arbeit wird nicht durch Leistungsbeurteilungen oder drohende Arbeitslosigkeit sichergestellt – stattdessen führt man miteinander Qualitätsdebatten im Wikipedia-Forum, die dem Austausch dienen. Dabei verpflichten sich die Redakteure selbst gemeinschaftlich zur Einhaltung der festgelegten Normen.

Die konventionelle Wirtschaft verfügt nicht über Instrumente, mit denen Phänomene wie die Wikipedia analysiert werden können. Die Seite verfügt über kein Einkommen, keine Börsenkapitalisierung und keinen kalkulatorischen Gewinn, nach dem wir sie einschätzen könnten. Weder menschliche Motivationen, noch kooperative Koordinationsmechanismen passen zu Marktmodellen der absoluten Maximierung und des absoluten Marktgleichgewichts. Wenn wir unsere Wirtschaft beurteilen wollen, wären wir eigentlich besser dran, Systeme wie die Wikipedia-Community zu ignorieren?

Ein hybrides Machtzentrum

Im Gegensatz dazu erscheint Google wie eine Firma, die man durch traditionelle ökonomische Theorien erklären können sollte. Die zweitgrößte Firma der Welt in Sachen Marktkapitalisierung erzeugte im Jahr 2015 Gewinne in Höhe von 75,5 Milliarden US-Dollar – und zwar größtenteils durch den Verkauf von Anzeigen.

Das ist durchaus ein Markt, oder? Dieser existiert allerdings nur, weil Google seinen Nutzern Geschenke macht. Sein Herzstück ist die kostenlose Internetsuche. Wenn Google uns Suchergebnisse liefert, erhält es als Nebenprodukt des Suchprozesses Informationen über unsere Interessen und benutzt diese, um sehr viel effektiver und gezielter zu werben, als je zuvor in den konventionellen Medien möglich war.

Hier haben wir zwei zutiefst voneinander abhängige Praktiken: eine Marktpraxis, bei der Werbung verkauft wird, die nur deshalb existieren kann, weil es eine Praxis des Verschenkens der kostenlosen Internetsuche gibt. Kostenlose Zeitungen bieten ein ähnliches Modell an, aber Google arbeitet in völlig anderen Dimensionen. Ganz egal, wie gut Nachfrage und Angebot die Ergebnisse auf dem Werbemarkt darlegen können, sagen sie uns doch nichts darüber, wie Google diese Werbemöglichkeiten zunächst überhaupt erhält.

Um hybride Modelle der Wirtschaft wie dieses erklären zu können, brauchen wir einen Ansatz, der Schenk- und Marktpraktiken in gleichem Maße als bedeutend ansieht und der die Art und Weise analysieren kann, wie diese kombiniert werden.

Wirtschaft und die Schenkökonomie

Obwohl ich die digitale Schenkökonomie hier hervorgehoben habe, ist die Schenkökonomie an sich viel älter und verbreiteter, als ich es je ausdrücken könnte – sie war lediglich weniger deutlich mit der Marktwirtschaft gepaart, als es für uns in der Wirtschaftswelt ersichtlich war. Um ein Beispiel zu nennen, haben Menschen seit jeher ökonomische Vorteile innerhalb ihres Haushalts produziert, ohne dass sie sich diese gegenseitig angeboten haben. Wenn ein Elternteil für seine Familie kocht, ist das ebenso produktiv, wie wenn ein Berufskoch für seine Kunden in einem Restaurant kocht. Der Unterschied ist bloß, dass hierbei kein Bargeld den Besitzer wechselt.

Eine Studie über den Haushalt in Australien fand beispielsweise heraus, dass bei einer Monetarisierung – der Fall tritt ein, wenn an einen Haushalt ein Betrag in Dollar entsprechend der Marktwirtschaft vergeben wird – der Haushaltssektor an sich bereits größer ist als der Marktsektor. Ebenso beschränkt sich die „alte“ Schenkökonomie nicht auf Geschenke für Freunde und für die Familie – Wohltätigkeit, Freiwilligenarbeit und Blutspenden sind bekannte Formen von Geschenken, die wir fremden Menschen machen.

Ökonomen neigen gern dazu, die Schenkökonomie zu übersehen, wo auch immer sie stattfindet – nicht nur, weil die Werkzeuge, die Ökonomen verwenden, wie beispielsweise die Einkommens- und Gewinnkalkulationen sowie der Aktienmarkt und Aktienkurs, nur Märkten einen Sinn entlocken können, aber auch, weil es keine Methode gibt, wie man Produkte bewerten kann, die nicht verkauft werden. Wir sind alle gewöhnt daran, Dinge nach dem Preis zu beurteilen, den sie auf dem Markt erzielen, aber solche Preise gibt es im Schenkungsbereich nicht.

Das bedeutet jedoch nicht, dass seine Produkte keinen Wert haben, sondern eher, dass wir eine vollkommen dysfunktionale Vorstellung des Wertes von Dingen verinnerlicht haben, im Rahmen derer wir eine Wirtschaft ausschließlich in marktwirtschaftlichen Aspekten betrachten. Wir konzentrieren uns so sehr auf die monetäre Seite der Wirtschaft, dass wir nicht die Absurdität der Bewertung derselben auf Kosten der Dinge, die wir für einander tun und die wir nicht beziffern können, erkennen.

Wenn wir erreichen wollen, dass die Wirtschaft von heute und die Möglichkeiten von morgen sinnvoll eingesetzt werden, müssen wir endlich damit anfangen, die Welt als ein komplexes Etwas zu betrachten, das aus Marktpraktiken und Nicht-Marktpraktiken zugleich besteht. Wir müssen damit anfangen, Produkte nach ihrem menschlichen Nutzen zu beurteilen, statt nach ihrem Preis.

Dieser Artikel erschien zuerst auf „The Conversation“ unter CC BY-ND 4.0. Übersetzung mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.


Image (adapted) „Grünes übergeben“ by Maik Meid (CC BY-SA 2.0)


ist Dozent der Soziologie an der Universität von Loughborough. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Entwicklungsökonomie, der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften sowie der Ontologie.


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1 comment

  1. Die Schenkökonomie ist eine Schimäre. Nur sehr grosse Projekte, die 100’te Millionen Nutzer haben können sich mehr schlecht als recht über Wasser halten (Beispiel: Linux, Wikipedia, Firefox Browser). Und auch dies vorwiegend bei guter weltökonomischer Entwicklung. Ansonsten befindet sich ein Grossteil der „schenkökonomischen“ Projekte in existentiellen Krisen, sei es open source oder die siechende blogszene

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