Obwohl Echtzeitmedium, treten die wahren Qualitäten des Netzes erst auf lange, manchmal auf sehr lange Sicht zutage: denn dank der Versatilität digitaler Daten und permanenter Fortschritte in punkto Totalerfassung benimmt sich das Netz meist wie der sprichwörtliche Elefant: es weigert sich, zu vergessen.
Das klingt vielleicht beunruhigend, sollte sich aber sogar äußerst verstörend anhören, bedenkt man die Erkenntnisse der neueren Gehirnforschung: das Vergessen sei, meinen die Apologeten dieser These in typisch-euphorischer Übertreibung, mindestens genauso wichtig, wenn nicht gar viel wichtiger als sämtliche Merkfunktionen zusammen. Nur dank der Gnade des Vergessens kann unser unruhiger Affengeist, wie die Buddhisten sagen, nämlich überhaupt die Flut der zahllosen Informationen vom Typ überlebensrelevant bis Klatschspalte langfristig in die passende Ablage einsortieren; später sorgt dann ein Cronjob für regelmäßiges Leeren des Papierkorbs.
Man kennt das ja vom Frühjahrsputz: wenn all das alte, nutzlose Gerümpel erst mal im Vorraum steht, scheint es unfassbar, dass das ganze Zeug jemals in das (nach wie vor vollgeräumte) Zimmer gepasst hat. Nicht auszudenken, wenn jedes unwichtige Detail sich uns für immer einprägen würde – oder wissen Sie noch, welches Ablaufdatum auf der Milchpackung stand, die Sie vor 53 Tagen eingekauft haben?
Falls Sie Ihre Rechnung im Supermarkt mit Ihrer Club-Vorteilskarte (raten Sie mal, welcher der beiden Geschäftspartner den Vorteil hat) bezahlt haben, stehen allerdings die Chancen gut, dass irgendein Warendistributions/Customer-Care/Marktforschungs Software-Monster von Datenbank sich sehr genau daran erinnern kann, dass Sie schon wieder die „Extra-Lang-Haltbar“ Milch wählten, obwohl Sie doch sowieso jeden dritten Tag einkaufen kommen. Komischerweise immer wieder freitags in diese andere Filiale… was das wohl zu bedeuten hat? Zweifellos genug, dass Ihnen Columbo 2.0 im Fall der vergifteten Milchpackung einen virtuellen Strick draus drehen könnte. Und ganz genau so funktioniert im Prinzip das Netz: irgendwas Belastendes lässt sich sogar über Mutter Teresa finden.
Doch bevor die Freude zu groß wird, nun die schlechte Nachricht: jeder Kriminelle braucht eine Vorgeschichte, und die will sorgfältig konstruiert sein, sprich: wer erst vor wenigen Wochen frisch in die Internet-Siedlung eingezogen ist, muss sich schon ein wenig anstrengen, um seine weiße Weste rasch im Dreck zu wälzen. Negatives Identity Management unterscheidet sich dabei seinem Wesen nach keineswegs von panoptischen Wunsch über die Vollkontrolle der Selbstrepräsentation.
Daher auch die wichtigste Regel: Immer den richtigen Namen und die gleiche E-Mail Adresse verwenden! Das gilt bei allen Registrierungen und generell überall dort, wo man im Internet aufgefordert wird, seinen Namen zu hinterlassen. Stellt man (möglicherweise später) kompromittierende Bilder und/oder Videos online, so sollte man darauf achten, eine gut indizierte Seite zu wählen und jedem potenziellen Interessenten Zugriff zu gewähren. Reichliche Ausstattung aller multimedialen Inhalte mit entsprechenden Meta-Informationen gehört zur Pflicht des digitalen Raubeins, auch hierbei muss selbstverständlich Regel 1 beachtet werden.
Auch nicht schlecht: Schimpftiraden an Mailinglisten senden, deren Archive öffentlich zugänglich sind. Oder es vielleicht irgendwann mal sein werden. Glücklich, wer über eine eigene Homepage, möglicherweise sogar mit Eigennamen als Domain, verfügt: man muss sich ja nicht auf zweifelhafte Inhalte beschränken, sondern kann bei der Gelegenheit auch gleich die eine oder andere illegale Software, vielleicht mit einem Trojaner garniert, zur Verfügung stellen! Der Kreativität sind dabei kaum Grenzen gesetzt, lediglich bei Blackhat Maßnahmen ist Vorsicht angebracht: schließlich will man ja nicht aus dem Google-Index herausfallen.
Will man das doch, folgt das böse Erwachen häufig dann, wenn man feststellt, dass der Content-Aggregator von den Faroröer-Inseln weder auf E-Mails noch auf Anrufe an die Mehrwertnummer reagiert. Langweilige Zeitgenossen, die meinen, sich in virtuellen Umgebungen genauso höflich und bedachtsam gerieren zu müssen wie in der richtigen Welt, gibt es genug. Ein echter Netz-Rüpel sollte daher unter allen Umständen und um jeden Preis die folgende Frage vermeiden: „Würde ich das, was ich hier gerade von mir preisgebe, auch im Fernsehen erzählen?“ *
*Der Fast-schon-Ex-Programmintendant des ORF Lorenz hat dazu eine eindeutige Meinung.
Fotocredit: Elefanten Groß Klein von Johannes-D. / pixelio.de
Artikel per E-Mail verschicken
Schlagwörter: Elefant, Identität, Management, Ruf, vergessen
2 comments
Danke für den Artikel. Das Foto find ich aber auch süss :)