Das kollektive Gedächtnis verstehen: Das Netz macht’s möglich

Das Internet hat sämtliche Bereiche unseres Lebens umgekrempelt. Genauer gesagt hat sich die Art und Weise, wie wir Wissen erwerben, signifikant verändert – zum Teil durch Wissensquellen im Netz wie die Wikipedia. Genau genommen hat es sogar die Art der Wissenschaft verändert. Sozialwissenschaftler verwenden immer häufiger Daten aus dem Netz, um unsere individuellen und kollektiven Verhaltensweisen zu studieren – und das tun sie mit einer Genauigkeit, die man sonst nur aus den Naturwissenschaften kennt.

Sicherlich sind wir immer noch weit davon entfernt, im Internet große experimentelle sozialwissenschaftliche Datensätze vergleichbar zu denen, die im CERN produziert werden, zu finden, doch zumindest haben wir digitale empirische Daten, wie beispielsweise die aufgrund von Beobachtung gewonnenen Daten der Astrophysik. Millionen Menschen nutzen tagtäglich Online-Tools. So wird beispielsweise Wikipedia rund 500.000 Mal am Tag aufgerufen.

Das “Kollektive Gedächtnis”, wie es von Wissenschaftlern genannt wird, ist eines der Schlüsselthemen, um soziales Verhalten zu verstehen: Es verdeutlicht, wie sich Mitglieder einer sozialen Gruppe gemeinsam an ein Event in ihrer Vergangenheit erinnern. Obwohl es sich beim kollektiven Gedächtnis um einen Grundbegriff in der Soziologie handelt, gab es nur ein paar wenige empirische Studien über dieses Thema, hauptsächlich aufgrund fehlender Datensätze. Wissenschaftler, die erforschen, wie das Publikum vergangene Ereignisse abruft, hatten klassischerweise viel Zeit in Interviews und Aufwand in die Datensammlung investiert.

Flugzeugabstürze

Im Rahmen einer aktuellen Studie, die im Science Advances veröffentlicht wurde, verwendete unser Team, bestehend aus einem Soziologen, einem Computeringenieur und zwei Physikern, Daten aus der Wikipedia. Ziel war es, durch die in aller Öffentlichkeit zugänglichen Statistiken der täglichen Seitenabrufe aller Artikel der Enzyklopädie das kollektive Gedächtnis zu studieren.

Wir suchten in unserem Beispiel nach Flugzeugabstürzen in der gesamten Geschichte der Luftfahrt. Dies taten wir, weil solche Vorfälle gut dokumentiert sind und weil bedauerlicherweise einegroße Anzahl solcher Vorfällen existiert, die die statistische Analyse stabil gestalten. Wir unterteilten die Ereignisse in die Zeiträume “vor nicht allzu langer Zeit” (2008-2016) und “früher” (alle Vorfälle vor 2008). Beispiel für die neulich stattgefundenen Vorfälle sind Flug MH370, Flug MH17, Flug AF447 und der Germanwings-Flug 9525. Bei den vorhergehenden Unfällen handelt es sich zum Beispiel um den Flug AF587 und den Flug IR 655.

Um die steigenden Seitenabrufe für Artikel vergangener Ereignisse, eine Woche nachdem ein Ereignis eintrat, zu messen, verwendeten wir statistische Methoden. Wir nannten diesen Anstieg den “Aufmerksamkeits-Strom”. Wir waren daran interessiert, herauszufinden, ob der Anstieg der Aufmerksamkeit bezüglich des vergangenen Ereignisses in Korrelation zu den zeitlichen Abständen und der Ähnlichkeit der neulich stattgefundenen und der vergangenen Ereignissen steht. Darüber hinaus waren wir daran interessiert, herauszufinden, ob wir den Anstieg des “Aufmerksamkeit-Stroms” zu vergangenen Ereignissen verhindern können, indem ein neues Ereignis eintritt.

Wir haben herausgefunden, dass die Menschen nach dem Absturz der Germanwings-Maschine im Jahr 2015 in der Wikipedia Informationen über den American-Airlines-Flug außerhalb von New York City im November 2001 suchten. Tatsächlich gab es einen dreifachen Anstieg der Seitenabrufe in der Woche nach dem Germanwings-Absturz.

Es scheint hier ein Muster zu geben. Wir haben kontinuierlich einen signifikanten Anstieg der Seitenabrufe vergangener Ereignisse als Folge zu Vorfällen, die vor Kurzem geschahen, beobachtet. Im Durchschnitt wurden vergangene Ereignisse 1,4 mal öfter aufgerufen als die Ereignisse aus der vergangenen Woche. Das lässt vermuten, dass die Erinnerung an ein Ereignis mit der Zeit wichtiger werden kann, und auch, dass dem Ereignis mit der Zeit mehr Bedeutung zugetragen wird, als es ursprünglich der Fall gewesen ist.

Wir haben dann versucht, dieses Muster abzubilden. Unter Berücksichtigung aller Faktoren, wie den Einfluss der Ereignisse aus der kürzer zurückliegenden Vergangenheit und derer, die weiter zurück lagen, zudem die Ähnlichkeit zwischen den Ereignissen und ob ein Hyperlink existiert, der die beiden Ereignisse direkt miteinander auf Wikipedia verlinkt.

Was unsere Erinnerung beeinflusst

Beispielsweise lässt sich im Fall der Germanwings- und American-Airlines-Flüge sagen, dass beide Vorfälle im Zusammenhang mit dem Piloten standen. Dieser könnte ein wichtiger Kopplungsfaktor sein. Die Maschine der American Airlines stürzte aufgrund eines Pilotenfehlers ab, während der Germanswings-Pilot das Fluzgeug absichtlich abstürzen ließ. Dies wurde umso interessanter, als wir herausfanden, dass es keinen Hyperlink gab, der diese beiden Artikel auf Wikipedia miteinander verlinkt. Tatsächlich blieben unsere Daten sogar dann stabil, als wir alle Paare entfernten, die durch Hyperlinks in direkter Verbindung zueinander standen.

Der wichtigste Faktor des Musters war die ursprüngliche Auswirkung des vergangenen Ereignisses, die durch ihre durchschnittlichen täglichen Seitenabrufe gemessen wurde, bevor das Ereignis eintrat. Das heißt, dass manche vergangenen Ereignisse einprägsamer sind und unsere Erinnerung daran leichter ausgelöst werden können als andere. Als Beispiel hierfür können die Flugzeugabstürze am 11. Semptember genannt werden.

Statistik Seitenaufrufe Wikipedia
Drei Flugzeugabstürze aus der jüngeren Vergangenheit (genauer: aus dem Jahr 2015) und ihre Auswirkung auf die Seitenaufrufe vergangener Ereignisse. Die Abstürze aus der jüngeren Vergangenheit haben einen Anstieg in Seitenaufrufen bei den Ereignissen, die bereits längere Zeit vergangen sind, verursacht.

Die zeitliche Trennung zwischen zwei Ereignissen spielt ebenso eine wichtige Rolle. Je näher zwei Ereignisse beieinander liegen, desto stärker ist ihre Verbindung. Wenn ein Ereignis mehr als 45 Jahre zurück liegt, ist es unwahrscheinlich, dass es noch eine Erinnerung an ein vergangenes Ereignis auslöst.

Die Ähnlichkeit zwischen zwei Ereignissen hat sich ebenso als einen wichtiger Faktor ergeben. Dies lässt sich am Beispiel der IR 655 erklären. Die Maschine wurde im Jahr 1988 von einem US-Kriegsschiff mittels einer Rakete abgeschossen. Hierbei handelte es sich eigentlich um kein Ereignis, an das sich die Menschen gut erinnern konnten. Allerdings wurde diesem Ereignis wieder große Aufmerksamkeit zugetragen, als im Jahr 2014 der Malaysia-Airlines-Flug 17 von einer Rakete über der Ukraine getroffen wurde. Der Unfall mit der Iran-Air-Maschine hatte vor den Geschehnissen in Malaysia eine durchschnittliche tägliche Quote von 500 Aufrufen und stieg kurz danach auf 120.000 Aufrufe täglich.

Es ist wichtig, festzuhalten, dass wir die tieferliegenden Mechanismen hinter diesen Beobachtungen nicht wirklich verstehen. Die Rolle der Medien, die individuellen Erinnerungen oder die Struktur der Kategorisierung von Artikeln auf Wikipedia können alle ein Teil dessen sein und werden ein Thema in zukünftigen Beobachtungen darstellen.

In traditionelleren Theorien wird vermutet, dass die Medien die zentrale Rolle in der Formung unseres kollektiven Gedächtnisses spielen. Dennoch ist eine wichtige Frage, inwiefern der Wandel zu Onlinemedien und vor allem sozialen Medien diesen Mechanismus verändern wird. Heutzutage erhalten wir oft Neuigkeiten durch unsere Facebook-Freunde. Kann dies erklären, warum Ereignisse, die seit Jahren nicht in den Nachrichten erschienen sind, auf einmal so nah an unserer Gegenwart sind?

Zu wissen, wie diese Fragen zu beantworten sind – und um zu verstehen, wie das kollektive Gedächtnis gebildet wird, ist nicht nur aus der wissenschaftlichen Perspektive heraus interessant. Das Verständnis über das kollektive Gedächtnis könnte darüber hinaus Anwendung im Journalismus, in der Medienentwicklung, in der Politik und sogar in der Werbung finden.

Dieser Artikel erschien zuerst auf „The Conversation“ unter CC BY-ND 4.0. Übersetzung mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.


Image (adapted) „Wikipedia_mini_globe_handheld“ by Lane Hartwell (CC BY-SA 3.0)


The Conversation

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für Computational Social Science am Institut für Internet an der University of Oxford. Er hat einen Doktortitel in Physik, studierte in Teheran, Göttingen und Budapest. Während seiner Arbeit in Budapest hat er sich viel mit der Wikipedia beschäftigt, ebenso wie Big Data Analysen.


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