Das Notiz-Amt wollte an dieser Stelle eigentlich auf die vorzüglichen Gedanken des rebellischen Geistes Stefan Holtel und seinen Überlegungen zu den Untiefen der Gläubigkeit an die Heilsversprechen der Künstlichen Intelligenz eingehen. Kann KI irgendetwas besser machen, was Software bislang noch nicht konnte, fragt sich Holtel. Das ist natürlich Unsinn. „Nicht die Algorithmen werden in der KI zu vielen Problemen führen, sondern die Vorurteile, die in den Daten stecken.“ Also Vorurteile, die wir alle in die Daten stecken.
Wenn auf dieser Basis die KI-Systeme ihre unermüdliche Arbeit aufnehmen und Entscheidungen vorbereiten oder sogar selbst treffen, kommt ziemlicher Mist dabei heraus. Kunden, die keinen Kredit mehr bekommen, Versicherte, die Prämienerhöhungen hinnehmen müssen oder gar Netzaktivisten, die als potenzielle Störenfriede der Gesellschaft aussortiert werden. Fast alle Daten, die von Black Box-Maschinen verarbeitet werden, sind von Menschen annotiert worden. „Wir reichern vermeintlich objektive Daten mit unseren Weltmodellen an. Das wird von keinem Algorithmus hinterfragt“, so Holtel im Vorgespräch zu seiner Session auf der re:publica in Berlin beim HR-Festival in der Watson Work Lounge.
Streiten wir über Hausmeister-Maschinen
Konsequenz: Es fällt uns immer schwerer, die Richtigkeit von Datenberechnungen zu erkennen. Das Ganze ist sogar ein paradiesisches Feld für Trickser, Agitatoren, Autokraten und Machtgierige, sich hinter den Ergebnissen der KI-Maschine zu verstecken und die schmutzigen Entscheidungen auf die Algorithmen zu schieben. Etwa beim Scoring aller Bürgerinnen und Bürger in China. Die Führung der Kommunistischen Partei in Peking installiert „korrekte“ Maschinen als Hausmeister für politische Hygiene ein. Sozusagen eine Beseelung von toten Apparaten: KI-Maschinen sind wie wir, nur perfekter und unfehlbarer. Der manipulierende Maschinist bleibt dabei unerkannt. Die Drecksarbeit übernehmen Algorithmen – vergleichbar mit der unsauberen Arbeit von Consulting-Firmen, die als Alibi für den Rausschmiss von Mitarbeitern in Unternehmen engagiert werden.
„Wir müssen unser Konzept von Vertrauen in Maschinen überdenken und neu bewerten. Das ist keine technische Frage, sondern eine techniksoziologische und gesellschaftliche, die keine objektive Antwort haben wird, sondern in einem normativen Diskurs entwickelt werden muss.“ Sonst entsteht so eine Art Maschinen-Paternalismus. Vergleichbar mit der Einführung der Tabellen-Kalkulation. „Wie haben uns den Ergebnissen ausgeliefert, die von Excel und Co. ausgespuckt werden. Dabei gibt es eine Vielzahl von Studien, die die Fehlerhaftigkeit von Excel-Tabellen belegen. Wenn wir die einfache Konstruktion einer Tabelle schon nicht verstehen oder kritiklos darauf reagieren, werden wir erst recht nicht verstehen, was in der Interaktion mit Algorithmen abgeht“, mahnt Holtel.
Das berühmteste Beispiel ist das Excel-Chaos der Harvard-Ökonomen Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff, die ein Optimum für die Höhe von Staatsschulden als finanzpolitischen Leitfaden den Staatsregierungen ins Ohr gemauschelt haben. Es sei ein großer Fehler, den Maschinen Fähigkeiten wie Rationalität und Unfehlbarkeit zuzuschreiben, bemerkt Holtel: „Das speist sich aus unseren täglichen Erfahrungen. Niemand rechnet Excel-Tabellen nach. 2007 gab es im Intel-Prozessor einen Hardware-Fehler, der dazu führte, dass Excel falsch rechnete. Es gibt diese systemischen Fehler sehr häufig, aber Menschen sind kaum in der Lage, diese Risiken einzuschätzen.“
Kritischer Diskurs über Künstliche Intelligenz
Der Diskurs über Künstliche Intelligenz müsse differenzierter geführt werden. „Wir sollten durch Aufklärung oder Machteliten-Hacking Verantwortung übernehmen, um diesen Diskurs adäquat zu begleiten“, resümiert Holtel. Und da sind wir direkt beim zweiten Thema, dass nahtlos an die Notwendigkeit von offenen, kontroversen und anschlussfähigen Diskursen anknüpft: Der Rolle der Hochschulen. Kann eine Ökonomisierung den akademischen Betrieb über Studiengebühren beflügeln? Dazu gab es eine ausgiebige Disputation auf Twitter, die ich hier nicht wiederholen möchte.
Disputationsgeist oder Verarmung des Denkens mit Studiengebühren?
Wollen wir wirklich einen universitären Verwaltungsmoloch weiter füttern mit dem Geld von Studierenden, bei dem es um dümmliche Ranglisten und eine Verarmung des Denkens mit Kennzahlen geht? Wie kümmerlich. Als Sekretär des Notiz-Amtes gründe ich als Gegenentwurf heute die „Digitale Thomasius-Akademie für Wissenschaft und Geselligkeit“.
Warum gerade Thomasius? Weil Christian Thomasius Ende des 17. Jahrhunderts die Universität als politisches Experiment vorantrieb. Ja, als politisches Experiment und nicht als Effizienz-Anstalt für die Sammlung von Schleimpunkten – Gebührenfinanzierung hin oder her. Man sollte schlechten Institutionen nicht noch Geld hinterher schmeißen. Durchbrechen wir mit Studiengebühren den bildungspolitischen Teufelskreis, der da heißt: „Herkunft gleich Zukunft“? Untermauern wir nicht den pseudo-elitären Zirkel, wo Müller den Müllerchen nachzieht und akademische Klone in Führungspositionen gelangen – also eine ständische Gemeinschaft, die sich abschottet und gegenseitig Pöstchen zuschiebt?
Digitale Thomasius-Akademie für Wissenschaft und Geselligkeit
Wer über die nötige Finanzzufuhr über Papi und Mami verfügt, soll ruhig ordentlich zur Kasse gebeten werden und an den Lemuren-Anstalten den Kadettengehorsam der Lehrpläne an „Elite-Unis“ aufsaugen. Malen nach Zahlen im Hochschulkostüm. Wer sich der geselligen Disputation an der Digitalen Thomasius-Akademie hingibt, bekommt die universal ausgerichteten Sessions kostenlos. Schließlich unterrichtete Thomasius arme Studenten umsonst – das galt auch für die Nutzung seiner Bibliothek. Die 1694 eingeweihte Universität Halle testete die Innovationsbereitschaft der Gelehrtenrepublik mit der Berufung des Versuchsleiters Thomasius: ein Philosoph, Zeitschriftenmacher und Ratgeber des galanten Lebens.
Akademische Krawalle vonnöten
Seinen Weg dorthin bahnte sich Thomasius mit einer Serie von akademischen Krawallen. Sein politisches Universitätskonzept beruhte auf Weltläufigkeit, Klugheit und Erfahrungsnähe, es sollte die Urteils- und Kritikfähigkeit der Studierenden fördern und Barrieren für den Zugang zu brauchbarem Wissen aus dem Weg räumen. Nachzulesen in dem Opus von Steffen Martus „Auflkärung“, erschienen im Rowohlt-Verlag. Überlieferungen und Traditionen schob er beiseite und empfahl seinen Studenten ein entspanntes Verhältnis gegenüber Wandel und Neuerung. Er inszenierte sich als akademischer Störenfried.
„Thomasius schlug ungewöhnliche Wege ein, um seine Gegner zu düpieren. Einer davon führte ihn zum Bündnis von Universität und Medienbetrieb. Er begann mit einer Zeitschrift, einer damals sehr frischen, wenig etablierten Gattung, in der seine Lieblingsideen noch einmal auftauchten, nun aber so vermengt und so unterhaltsam aufbereitet, dass sie ein breiteres Publikum ansprachen“, schreibt Martus und erwähnt die damalige Publikation mit Kultstatus: die Monatsgespräche – Scherz- und Ernsthafte Vernünftige und Einfältige Gedanken über allerhand Lustige und nützliche Bücher und Fragen. Eine Mischung aus Information und Pöbelei, aus Satire und anspruchsvoller Kritik, die nicht nur unterhaltsam, „sondern noch dazu erfolgreich war“, so Martus.
Social Web im 17. Jahrhundert ohne AGB-Diktatur
Greift man zur Schrift „Das Archiv der Klugheit“ von Leander Scholz, erfährt man noch mehr über Thomasius als Wegbereiter des Social Webs mit analogen Mitteln ohne AGB-Diktatur von Google und Co. Der Einzelne sollte durch die Bemächtigung von praxiologischem Wissen unhintergehbar werden. Sein Augenmerk richtete Thomasius stets auf die Medienrevolutionen, die zu einer Zäsur im Archiv des Wissens führen. „Das Kommunikationsmodell, mit dem er auf die erhöhte Datenmenge im Schriftraum reagiert, ist das des Marktplatzes mit der philosophischen Idealfigur Sokrates“, führt Scholz aus. In seiner Klugheitslehre wollte Thomasius den Wissensempfänger direkt zum Wissensvermittler machen, denn die Wissensproduktion findet mit dem Verlassen des universitären Bereichs vor allem in der täglichen Konversation statt. „Die Demokratisierung des Wissens und der Informationssysteme waren für Thomasius unabdingbare Voraussetzungen für eine demokratische Gesellschaft“, erläutert Scholz. Im Vordergrund seiner Theorie des Denkens stand nicht die Bewältigung eines heterogenen Stoffs nach dem Bulimie-Prinzip (reinschaufeln – auskotzen), sondern die Navigation in der Unübersichtlichkeit von Welt. So lasset uns disputieren in der Digitalen Thomasius-Akademie über diskriminierende Hausmeister-Maschinen, ausgrenzende Studiengebühren, die Neuerfindung einer politischen Universität, über Zukunftsszenarien, Utopien und das Leben. Mäzene wären dabei nicht schlecht – und die hatte Thomasius auch.
Am Donnerstagabend gibt es das erste Thomasius-Seminar als rebellische Formation. Gespräch über Ethik und Bildung jenseits der Stoff-Bulimie.
Image (adapted) by Redd Angelo (CC0 Public Domain)
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Schlagwörter: Algorithmen, Daten, KI, Künstliche Intelligenz, Maschinen, republica