Beerdigungen im Stream: Das Netz hilft uns bei der Trauerarbeit

Fortschritt in der Kommunikationstechnik hat unser Leben im 21. Jahrhundert stark verändert. Es hat auch verändert, wie wir mit dem Tod umgehen. Der Prozess des Trauerns wird durch soziale Medien und das Teilen von Wörtern, Bildern und Videos stark beeinflusst. Lebensereignisse werden aufgezeichnet, Informationen und Gedanken gespeichert und Emotionen auf Facebook und Twitter geteilt. Nach dem Tod werden Profile zu Online-Gedenkstätten, mit dem Potenzial, viel interaktiver und langlebiger als ihre herkömmliche offline-Form zu sein.

Wir müssen nicht mehr sterben, um in anderen Sphären zu schweben. Die Sphären, die unsere Online-Daten beinhalten, benutzen wir bereits jetzt. Wenn der Tod kommt, können gespeicherte Daten eine himmlische Schatzgrube für die Hinterbliebenen werden. Doch die Kommunikationstechniken und die sozialen Medien sind nicht zu mehr gut, als starre Daten-Denkmäler zu schaffen. In einigen Ländern eröffnet Online-Kommunikation den Trauernden die Chance, physische Distanz zu überwinden und dennoch aus einer gewissen Entfernung teilzunehmen. Viele Bestattungshäuser in Brasilien bieten Echtzeit-Streaming von diesen Veranstaltungen an.

Die Bedeutung von Totenwachen in Brasilien

Brasilianische Totenwachen („velórios“ auf Portugiesisch) sind äußerst wichtig. In der Regel finden sie nur einige Stunden nach dem Tod statt und verbinden dabei die Gedenkstätte und Beerdigung, mit dem (meist nicht einbalsamierten) Körper in einem Sarg zur Ansicht durch die Trauernden. Dieses Ritual kann in der Kommune oder privat, informell oder formal, weltlich oder religiös sein. Es kann von zwölf Stunden bis zu einem ganzen Tag dauern, mit einer ausdauernden Mahnwache voller Klagen, Gebete und sozialer Bindung, die man vor dem Begräbnis oder der Einäscherung festigen kann.

Virtuelle Totenwachen waren ursprünglich gedacht, damit Verwandte oder Freunde des Verstorbenen dabeisein können, die nicht persönlich an der Mahnwache teilnehmen konnten. Aber ein anderes Publikum hat sich entwickelt, das Webseiten von Beerdigungsunternehmen besucht, um die Beisetzung von Menschen zu streamen, die sie nie getroffen haben. Eine geheime Facebook-Gruppe namens „Profiles de Gente Morta“, (Profile der Verstorbenen) konzentriert sich auf das Sammeln von Links zu Profilen von verstorbenen Social-Media-Nutzern, die eine umfassende Nachruf-Datenbank im Netz erstellt. Die Gruppe hat mehr als 15.000 Mitglieder in Brasilien. Einer von ihnen beschrieb die Gruppe, die für neue Mitglieder geschlossen ist, es sei denn, sie sind eingeladen worden, als „die einzige, in der sie auch nach ihrem Tod noch Mitglied sein können“.

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Fast 40 Prozent der Mitglieder, die eine Umfrage abgeschlossen haben, die ich erstellt habe, gaben an, schon einmal eine virtuelle Totenwache verfolgt zu haben. Wie bei den Profilen, die sie teilen, kennen sie die Leute nicht, die sie beobachten. Ich, wiederum habe diese Beobachter genauer unter die Lupe genommen.

Die Dynamik, virtuelle Totenwachen in dieser Befragtengruppe zu beobachten, ist recht einfach. Zuschauer greifen auf die Webseiten von Beerdigungsgesellschaften zu, die man zu einem bestimmten Zeitpunkt verfolgen kann und erstellen in der Gruppe Kommentare darüber, was sie sehen. Sie besprechen ihre eigenen Ansichten über den Tod und das Sterben und auch Details über die jeweilige Totenwache, die sie sich anschauen, wie etwa die Wahl der Blumen, die Farbe des Sarges oder die Anzahl der (lebenden) Teilnehmer. Viele beschreiben die Erfahrung als Zuschauer einer Online-Beerdigung als traurig, sogar verheerend, manche beschreiben sie als interessant.

Doch warum schaut sich jemand überhaupt virtuelle Totenwachen von völlig Fremden an? Aus meinen Interviews und Umfragen der Mitglieder der Gruppe geht hervor, dass der Hauptgrund schlichtweg Neugierde ist. In Brasilien haben Beerdigungen eine starke Tradition der engen Interaktion mit Leichen. Doch viele Eltern lassen ihre Kinder nicht teilnehmen. Infolgedessen ist es möglich, das Erwachsenenalter zu erreichen, ohne jemals bei einer Beerdigung gewesen zu sein. Das Streaming einer virtuellen Version kann dabei helfen, zu verstehen und irgendwie zu erleben, um was für eine Art von Erlebnis es sich handelt.

Wache halten

Andere geben an, virtuelle Totenwachen als eine Form der Therapie zu sehen. Manche teilen ihr Leid dadurch, dass sie erfahren, wie andere sich durch das Streaming in eine Situation versetzen, in der sie möglicherweise erst vor kurzem bei einem Todesfall im persönlichen Umfeld gesteckt haben. Andere glauben, virtuell Gesellschaft zu leisten und durch den Bildschirm für den Verstorbenen zu beten. Dies geben besonders diejenigen an, deren Totenwache nur wenige Teilnehmer hat. Die Wache sei Teil einer gesellschaftlichen Pflicht, die bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts ein wesentlicher Teil der brasilianischen Kultur war.

Doch die Aktivitäten dieser virtuellen Tätigkeiten sind oft verpönt. Außerhalb ihrer Gemeinde sagten sie mir, dass sie als „krank“, „gestört“ oder „krankhaft“ kritisiert worden sind. Aus diesem Grund ist die Gruppe geheim und geschlossen. Ein Mitglied enthüllte, dass es eine starke Gegenreaktion seitens seiner Familie erlitten hatte, weil es virtuelle Totenwachen anschaute, obwohl einer seiner Verwandten die tatsächlichen Totenwachen von Fremden besuchte, wann immer die Gelegenheit bestand.

Nachdem ich viele virtuelle Totenwachen für meine Forschung gesehen habe, ist meine eigene Ansicht, dass sie eine wichtige Gelegenheit für die Menschen bieten, sich zu einer Zeit des Schmerzes und des Leidens zusammenzubringen. Sie vervielfachen die Gelegenheit, an einem wichtigen und heiklen Ritual teilzunehmen. Das Internet verbindet uns im Leben und kann uns von nun an auch im Augenblick des Todes miteinander verbinden.

Dieser Artikel erschien zuerst auf „The Conversation“ unter CC BY-ND 4.0. Übersetzung mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.


Image (adapted) „Friedhof“ by Mrtvolka666 (CC0 Public Domain)


The Conversation

machte ihren Bachelor an der University of Paraíba in Brasilien im Bereich der sozialen Kommunikation mit Schwerpunkt Journalismus (2009)und ihren Master in Anthropologie (2013). Bevor sie 2014 anfing ihren Doktor zumachen, arbeitetet sie u.a. als Beraterin für eine Human Rights NGO.


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