Neue Provinz: Das Mysterium Landleben


Warum Neue Provinz? Die erste Ausgabe der neuen Kolumne erklärt die Titelwahl.


Laut dem Berliner Geburtsort-Atlas des rbb sind 1.736.514 Berliner*innen auch in Berlin geboren. Das macht 46,8 Prozent an der Gesamtbevölkerung aus. Diese Menschen sind in Berlin aufgewachsen, der größten Stadt Deutschlands und wohl einziger Inbegriff einer urbanen Metropole in diesem Staate. Eine von ihnen ist Katja Dittrich, besser bekannt als die „Torten der Wahrheit“-Grafikerin der „Die Zeit“ namens Katja Berlin, die auch wöchentlich für die Hauptstadtzeitung „Berliner Zeitung“ über ihre eigene Heimatstadt, dieses Berlin, schreibt.

Letzten Monat schrieb sie einen Appell für das Bleiben statt den obligatorischen Umzug aufs Dorf und wie man doch auch Landleben in Berlin erleben kann. Ob dies die bessere Antwort auf Charlotte Roches Großstadtflucht-Text vom Frühjahr diesen Jahres ist oder eine amüsant zu lesende Auseinandersetzung mit den durchaus ernsthaften Problemen des Alltags in Berlin, sei erst einmal dahingestellt. Trotzdem zeigt ihre Kolumne ein paar anekdotenhafte Kategorien auf, in denen das Landleben aus Sicht der Städter*innen definiert wird.

Kein Internet, Ärztemangel und nur Bargeld

Auf dem Land gibt es kein Internet, oder so schlecht wie in der Berliner U-Bahn. Aus eigenen Erfahrungen kann ich dieses Vorurteil bestätigen, muss es aber auch der Stadt zuschreiben. Das Problem ist hier eine bundesweit mangelnde Infrastruktur als Ausdruck eines Politikversagens. Da unterscheidet sich Hohenwulsch leider nicht von Friedrichshain. Scheinbar setzte Helmut Kohl aus politischen Gründen auf Kabelfernsehen statt Glasfaser, was rückblickend so höhnisch wie Marie-Antoinettes Kuchen-statt-Brot-Empfehlung wirkt.

Katja Berlins nächster Punkte ist die Schwierigkeit, einen Arzttermin zu bekommen. Dies ist in Berlin genauso schwer wie in München oder auf dem Land. Mein Eindruck mag mich täuschen, aber über die Vorteile von Telemedizin auf dem Land, dies erforschende Projekte und erste Ansätze, lese ich viel mehr als über Innovationen auf diesem Gebiet in der Stadt. Erfolge braucht es schnell, denn bundesweit findet ein gefährlicher Strukturabbau statt, bspw. in Hersbruck oder in Genthin, der die medizinische Grundversorgung gefährdet.

Der letzte Punkt stellt die sowohl auf dem Land als auch in der Stadt geltende Vorliebe der Deutschen für Bargeld statt bargeldlosen Bezahlens. Mein „Lieblingsthema“ hier in Berlin, aber auch anderswo. Als ich einmal in Magdeburg bargeldlos in ein Taxi stieg und fragte, ob ich auch mit Karte bezahlen kann, erntete ich einen ungläubigen Gesichtsausdruck und die Frage, warum man denn das machen wolle? Es ging selbstverständlich nicht, aber es gab bei diesem Taxi-Fahrer nicht einmal den Hauch des Verständnisses dafür. Ich war baff.

olly/stock.adobe.com
olly/stock.adobe.com

Heimat 2.0 ist immer irgendwie woanders

Unter diesen Gesichtspunkten hat Katja Berlin natürlich Recht, wenn sie schreibt, dass man in Berlin lebend die gleichen Erfahrungen wie auf dem Land machen kann. Es gibt noch mehr Anekdoten, auch Sie werden eine haben, die die Nachteile des Lebens im ländlichen Raum oder eben in Berlin aufzeigen. Jedoch darf man eines dabei nicht vergessen. Das Problem sind hier nicht die Bedingungen auf dem Land oder in der Stadt oder der Graben dazwischen, sondern es ist Deutschland. Anderswo wäre Katja Berlins Text nichts als Retro-Fiktion.

Dank der Initiative hinter dem Coworking Space Ludgate Hub gibt es im westirischen Skibbereen Irlands erste ländliche 1-Gig-Gesellschaft. Das ist eine 200-mal schnellere Internetverbindung als sich die deutsche Bundesregierung für dieses Jahr als Ziel für alle deutschen Haushalte vorgenommen hat und wohl auch bis 2025 nicht erreichen wird. Wie Telemedizin im ländlichen Raum geht, zeigt das Duncan Regional Hospital im dünn besiedelten Oklahoma (Bevölkerungsdichte: 25 Menschen pro Quadratkilometer).

Zu den Vor- und auch Nachteilen des bargeldlosen Bezahlens in Schweden kann man momentan viel nachlesen, von mir deshalb nur die Anekdote eines Bekannten, der an dem Limonaden-Stand zweier Kinder in einem schwedischen Dorf nur mit Smartphone für das selbstgemachte Erfrischungsgetränk bezahlen konnte. Die Kinder lehnten Bargeld ab, sie konnten sich das aufgrund der vorhandenen Infrastruktur und des gängigen Bezahlens mit Smartphone erlauben. Vielleicht wussten sie es auch nicht besser. Anders als in Deutschland.


Image by Olly / Stock.adobe.com

 

ist Coworking Manager des St. Oberholz und als Editor-at-Large für Netzpiloten.de tätig. Von 2013 bis 2016 leitete er Netzpiloten.de und unternahm verschiedene Blogger-Reisen. Zusammen mit Ansgar Oberholz hat er den Think Tank "Institut für Neue Arbeit" gegründet und berät Unternehmen zu Fragen der Transformation von Arbeit. Mitglied des Netzpiloten Blogger Networks.


Artikel per E-Mail verschicken
Schlagwörter: , , , , , , , , , , , , , ,