Markus Deimann ist habilitierter Bildungswissenschaftler und vertritt zurzeit das Lehrgebiet Mediendidaktik an der FernUniversität in Hagen. Er mischt sich als Redner, Kolumnist und Podcaster aktiv und kritisch in die Debatten zur Digitalisierung von Bildung ein. Im Interview beantwortet er uns Fragen zu Open Educational Ressources (OER).
Markus Deimann, können Sie kurz erklären, was Open Educational Resources (OER) sind?
Open Educational Resources sind Lernmaterialien, die unter einer freien Lizenz stehen und darum die Nachnutzung, die Vervielfältigung und den Remix erlauben, ohne den Urheber explizit um Erlaubnis fragen zu müssen. Urheberrechtlich ist man damit auf der sicheren Seite. Andererseits kann man die Materialien nach Belieben verändern. Das erweitert die Vielfalt, es gibt mehr Auswahlmöglichkeiten. Jeder kann freie Materialien erstellen, zu jedem beliebigen Thema kann ich welche finden. Und diese Auswahl ermöglicht mir vielfältige Zugänge zu einem Thema.
Aber wenn jeder Mensch einfach Lernmaterialien ins Internet stellen kann: Wie kann man sicher sein, dass sie qualitativ hochwertig sind?
Diese Befürchtung hört man oft, wenn es um OER geht. Bei Schulbüchern übernimmt eine Behörde die Qualitätssicherung. Das ist eine Entlastung. Man könnte aber auch von einer Infantilisierung sprechen. Wenn eine Biologielehrerin etwas für ihren Unterricht sucht, dann würde ich ihr unterstellen, dass sie eine ausreichende Fachkompetenz hat, um auch sicherzustellen, dass die gefundene OER-Ressource qualitativ einwandfrei ist.
Nutzen Lehrende überhaupt solche Materialien?
Das hängt natürlich vom einzelnen Lehrer, von der einzelnen Lehrerin ab. Aber ja, sie nutzen es durchaus. Es gibt zum Beispiel die Zentrale für Unterrichtsmedien im Internet. Da findet man eine große Auswahl an Themen, Materialien und Ressourcen, die von Lehrerinnen und Lehrern eingestellt wurden. Wer sich grundsätzlich über OER informieren möchte, für den ist die OER-Infostelle aktuell die zentrale Einflugschneise.
Welche Nachteile haben OER?
Es fängt beim Begriff selbst an: Open Educational Ressources klingt sperrig und technisch. Da gibt es einen Mismatch zwischen dem unhandlichen Begriff und der eigentlich guten Idee. OER sind Teil einer Kultur des Teilens. Da sind viele dafür, aber mit dem Begriff kann man nichts anfangen. Darüber hinaus sind OER immer noch schwer zu finden. Es braucht einfach noch mehr Plattformen, auf denen ich OER nicht nur finden, sondern auch auf einfache Art hochladen kann. Wenn ich meine Materialien teilen möchte, ist der Zusatzaufwand immer noch groß.
Im Prinzip bräuchte man also eine Art OER-Cloud?
Genau. Auch vor dem Hintergrund, dass man sich mithilfe von offenen Schnittstellen mit zum Beispiel Learning Management Systemen [z.B. Moodle, Anm. d. Red.] verbinden kann. Die Cloud liefe dann im Hintergrund und ich könnte als Lehrender an der Universität meine Materialien ohne großen Aufwand freigeben.
Wo finde ich als Lehrender solche Materialien im Moment?
Das kommt natürlich auf die Ressource an. Wenn man jetzt an Bilder denkt, gibt es sowas wie Pexels. Da kann man nach Lizenzen filtern. Es geht aber noch einfacher: über Google. In den leider etwas versteckten erweiterten Einstellungen kann ich meine Suche nach Lizenzmodellen filtern. Zum Beispiel nach Creative Commons.
Wie passt die Kultur des Teilens überhaupt zum heutigen, starren Bildungssystem?
Da gibt es durchaus einen Widerspruch, aber pauschal würde ich nicht sagen, dass beides nicht zusammenpasst. Dort gibt es einen althergebrachten Spruch: Ein Professor würde eher die Zahnbürste teilen als sein Material. Auf der einen Seite ist das natürlich ein Ego-Ding. Vor allem aber haben viele Kollegen Angst, dass andere ihr Material nicht gut genug finden. Viel Zeit wird für Forschung, Verwaltung und Drittmittelanträge benötigt. Die Befürchtung: Man muss sich auf viele andere Sachen konzentrieren, sodass darunter die Qualität der Lehrmaterialien leidet.
Vor welchen Problemen stehen OER in Deutschland?
Aus rechtlicher Sicht spricht nichts gegen OER. In den vergangenen Jahren sind viele rechtliche und technische Hilfestellungen und Anleitungen entstanden. Wie mache ich das genau? Worauf muss ich achten? Im Prinzip könnte jeder sofort loslegen und andere Materialien nutzen und verändern. Es gibt eher eine kulturelle Hürde. Viele Forscher richten sich einfach nach den vermeintlich wichtigsten Autorinnen und Autoren des eigenen Fachs und schauen nicht nach links und rechts. In der Musik wird viel mit Remixen gearbeitet. Das kann man zum Beispiel auch in der Lehre anwenden. Verschiedene Dinge zusammennehmen, auseinanderreißen und wieder zusammenkleben. Das findet in der Bildung noch nicht statt.
Was könnte man denn ganz konkret tun, um OER bekannter zu machen?
Es ist wichtig, zentrale Multiplikatoren zu identifizieren und sie mit dem Thema OER vertraut zu machen. In den vergangenen eineinhalb Jahren hat viel Aufklärung stattgefunden. Vor allem bei Multiplikatoren an Hochschulen. Die wurden sensibilisiert und geschult. Natürlich stellt sich die Frage, wie nachhaltig das ist. Wird das auch von der Hochschule weiter am Kochen gehalten und weiter befeuert? Da gibt es einen Mismatch. Viele sagen, dass sie es toll finden, Materialien frei zur Verfügung zu stellen. In der Realität wird das dann oft nicht umgesetzt. Da gibt es noch viel Luft nach oben.
Welche Reaktionen kommen von Multiplikatoren?
Vor allem die jüngeren Lehrenden finden die Formen der offenen digitalen Zusammenarbeit gut. Dass man sich mit anderen Studierenden von anderen Hochschulen zusammentut, gemeinsam an Dokumenten arbeitet, gemeinsam was erstellt. Wissenschaft lebt ja vom Austausch und von der Diskussion. Und das kann man eben auch digital abbilden.
Wie steht es denn um die Finanzierung von OER in Deutschland?
Es gibt natürlich schon Förderung vom Bundesministerium für Bildung und Forschung aus der OER-Förderlinie. Die war zwar nicht groß, dort wurden aber 23 Einzel- und Querschnittsprojekte gefördert. Da geht es aber vor allem darum, Menschen über OER zu informieren. Wenn man möchte, dass eine Kultur des Teilens entsteht, braucht es natürlich mehr Geld. Man könnte zum Beispiel mit Anreizen arbeiten und das beste OER-Projekt auszeichnen, was von mindestens drei Hochschulen erstellt wurde. Wettbewerb funktioniert in diesem Bereich ganz gut. Das hat man vor ein paar Jahren bei den Massive Open Online Courses (MOOC) gemerkt. Da ist ein riesiger Hype entstanden.
Wie sähe eine weitere Förderung ganz praktisch aus?
Es braucht daneben eine Anschubfinanzierung für einen Anfangsbestand von guten Open Educational Resources. Man könnte zum Beispiel sagen, dass man für bestimmte Fächer einen Bestand an frei zugänglichen Videos, Powerpoints oder Podcasts finanziert. Andererseits wird Geld für die Infrastruktur benötigt. Finanzierung für technische Plattformen, die nah an meinem Arbeitsprozess dran sind. Sodass es nur einen Klick braucht, um Materialien frei zur Verfügung stellen zu können. Andererseits könnte man öffentlich finanzierte Forschung auch für die Allgemeinheit freigeben. Da sollte man vor allem an die Ehre der Pädagogen appellieren. Warum schränkt ihr euch ein? Warum die Materialien nur für 20 Leute im Kurs freigeben, wenn so viel mehr Menschen davon profitieren könnten?
Der Koalitionsvertrag von Union und SPD sieht eine umfassende OER-Strategie vor. Wie schätzen Sie die Bemühungen der Bundesregierung in diesem Bereich ein?
Nicht so groß. Im Moment liegt der Fokus der Bundesregierung auf dem Bereich Digitalisierung, was komischerweise als was anderes als OER gesehen wird. Dabei hängt beides sehr eng miteinander zusammen. Man setzt aber eher auf Hype-Themen. Vor ein paar Jahren waren es MOOC, jetzt ist es aktuell mal wieder künstliche Intelligenz oder Blockchain. Da gibt es auch im Bildungsbereich durchaus Bedarf, das will ich gar nicht in Frage stellen. Das darf aber nicht komplett den Blick für die Probleme verstellen, die man an der Basis hat.
Bleiben OER eine Nische oder können sie sich langfristig durchsetzen?
In der Digitalisierungsdebatte geht es gerade stark darum: Wie innoviere ich meine Lehre? Wie nutze ich digitale Medien? Da ist eine Anschlussmöglichkeit für OER. Da braucht es aber nicht nur einzelne Akteure, die OER nutzen. Es braucht E-Learning-Zentren und Hochschulleitungen, die ihre Materialien frei zur Verfügung stellen. So ist es auf jeden Fall auch in den nächsten fünf Jahren möglich, OER zum Durchbruch zu verhelfen.
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Schlagwörter: bildung, E-Learning Zentren, Fortbildung, Freie Lehrinhalte, MOOC, Multiplikator, OER, Open Educational Ressources