Seit jeher machen sich viele Theorien und Modelle über gesellschaftliches Zusammenleben über den Begriff der Öffentlichkeit her. In vielen Fällen begehen sie entweder den Fehler, das Ganze zu fokussieren in Begriffen wie System o.ä. Aber auch die andere Seite, das Individuum wird allzu gern zum Primat der Überlegungen gemacht. Auf der funktionalen Ebene werden in einem ebenso einseitigen Vorgang Prozesse immer wieder als statische Zustände betrachtet. Sodass oft eine der beiden Seiten (Ganzes oder Individuum) in einem bestimmten Zustand beschrieben wird, um Gesellschaft zu erklären bzw. zu deuten…
Betrachtet man die Willensphilosophie von Habermas (er gründet die Demokratie auf den Willen des Einzelnen, der seine personale Autorität in eine rationale überführt), die oft beim Begriff der Öffentlichkeit angeführt wird, ergibt sich in einer reduzierten Zusammenfassung folgende Deutung: Das in sich gleichberechtigte Bildungsbürgertum hat aus dem ästhetischen Diskurs der Cafehäuser früherer Zeiten die Macht des Arguments zum Primat erhoben. Diese Gesprächskultur sieht er naheliegenderweise nicht realisiert im Umgang der Obrigkeiten des Staates mit den Bürgern. Unter dem Begriff „öffentlich“ fasst Habermas jene Sachverhalte zusammen, die alle Mitglieder der Gesellschaft angehen und daher gesellschaftlich zu regeln sind (rationale Autorität). Im Gegensatz dazu sieht er denprivaten Bereich der individuellen Willkür unterworfen, die dem staatlichen bzw. gesellschaftlichen Zugriff entzogen ist. Wir kennen diese Willkür aus der Ohnmacht vieler Polizisten bei häuslicher Gewalt, die erst dann eingreifen (dürfen) wenn es oft zu spät ist.
Das klingt einleuchtend. Probleme gibt es hier aber von mehreren Seiten. Alle Menschen, denen der sachliche argumentative Vortrag der Argumente nicht gelingt, sind von diesem öffentlichen Diskurs ausgeschlossen. Auch die illegalen Einwanderer in den reichen Nationen sind außen vor. Der Primat der Ratio hat sein Herkunft aus einer besonderen Betonung des Menschlichen gegenüber den Tieren. In den frühen Bestimmung des Menschen wurde anthropozentristisch der Mensch emporgehoben aus der Schöpfung qua Verstand und Vernunft (ratio). Seit dem 16. Jahrhundert hat man den Rationalisten als denjenigen verstanden, der dem Denken einen höheren Wert beimisst als den Erfahrungen. Dieser Wettstreit zwischen Kognition und Empirie ist allerdings obsolet geworden, sodass eine reine Zentrierung auf den Willen und die Ratio beim Nachdenken über Öffentlichkeit überholt wirkt und es tatsächlich ist. Denn nicht allein durch französische Autoren wie Levi-Strauss, die über das wilde Denken gearbeitet haben, ist uns klar, dass es eine integrale Ebene gibt, die bei den Bewahrern des Ganzen gegenüber dem Individuellen gern auf Modelle wie Holismus und Ganzheiten begründet wird. Ordnung ist hier nicht die Folge von Abstraktion und Kausalität und sondern von Kombinatorik und Assoziation.
Wenn wir aktuelle Gegebenheiten betrachten, in denen oft die Kombination von schneller Kommunikation, umfassender Information und mutiger Teilnahme zu einer Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen beitragen, dann finden wir hier ganz oft vordergründig den Habermaschen Aufstand der Menschen gegen die Obrigkeit. Aber der Gedanke, das Cafehaus einfach ins Web zu verlegen und dort die Öffentlichkeit zu verorten, übersieht das irrationale an solchen Nachweisen echter Öffentlichkeit: Der Rausch wie ihn Elias in seinen Memoiren beschrieb bei den Krawallen auf den Wiener Straßen. Diese Öffentlichkeit ist nicht strukturiert in Identitätsmanagement und Beziehungsverwaltung via facebook und Informationsmanagement via Google. Es ist viel eher ein magischer Zustand, der verschüttete aber virulente Überzeugungen assoziiert mit Informationen aus Digitalien und die vor allem aufgrund der Masse an gleichzeitigen Konsumenten derselben Inhalte eine kaskadenartige Handlung auslösen können. Im Gegensatz dazu sind die koordinierten Massenkunstphänomene, um gemeinsam bei youtube in einem Video zu erscheinen. Diese Flashmobs sind nur scheinbar spontan. Eigentlich erfüllen sie jedoch alle Kriterien einer gemeinsamen koordinierten rationalen Absicht, Aufmerksamkeit zu erhalten. Das aber ist keine Öffentlichkeit, die die Interessen einer Gesellschaft als Staat wahrnimmt. Es ist einfach ein Kundtun eines rationalen Willens zur Gestaltung des öffentlichen Lebens in Bahnhöfen etc. Denn Hakim Beys Idee war ja die Gewaltfreiheit in der temporären autonomen Zone. Öffentlichkeit als bewusste Entscheidung zur gemeinsamen Verantwortung als Staat. Das absolutistische Erbe der Öffentlichkeit in Gestalt der Öffentlichen Meinung hat hier schon den Atem des Rationalismus inhaliert und tut nichts anderes als die Idee der Vernunft zu perpetuieren: Erfolg und Verständigung sind hierbei die Motive des Einsatzes der Rationalität. Alles Nicht-Rationale hat insofern auch keinen Anteil und Platz an Erfolg und Verständigung. Damit wird vieles Zwischenmenschliche abgewertet. Dieser Handlungszwang, der dem bürgerlichen Denken innewohnt kommt nicht zuletzt aus der Sorge um den eigenen Haushalt. Lyotard bewertet denn auch die an der Sprechakttheorie geschulte Idee der Kommunikation bei Habermas als aggressiver Zwang zum Konsens. Denn jeder Bürger muss ja in letzter Konsequenz seinen Haushalt schützen, um überhaupt an der freien Kommunikation in der Öffentlichkeit teilnehmen zu können (als antikes Erbe der Idee des Privaten).
Das Web jedoch ermöglicht nur den Gebildeten, den Strombesitzenden, den Schreibenden und den Reflektierten einen Zugang zum Öffentlichen Diskurs. Hatten Radio, Presse und Fernseher noch eine asymmetrische Verlautbarungsfunktion ohne jeglichen kommunikativen Aspekt (abgesehen von asynchronen Wegen wie dem Leserbrief), ist die breite öffentliche Aussprache nun via Web überhaupt erst möglich. Aber es ist noch immer keine öffentliche Sphäre entstanden, die der agora vergleichbar wäre oder sogar – was dringend wünschenswert ist – darüber hinaus erweitert wäre.
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Schlagwörter: digital, Habermas, kommunikation, öffentlichkeit