Die digitale Existenz als Menschenrecht

Ob uns das Internet nun dümmer oder schlauer macht, ob die Dominanz des Digitalen zu negativen neuronalen Effekten führt oder nicht, zählt zu den Fragen, die den Bildungsbürger Frank Schirrmacher seit einiger Zeit umtreiben. Sein jüngst entworfenes Szenario über bevorstehende Gedächtnis-Deformationen durch die Alleinherrschaft des Suchmaschinen-Giganten Google ist letztlich nur eine Fortsetzung der Thesen des liebwertesten FAZ-Gichtlings, die er in seinem Buch „Payback“ ausgebreitet hat. Es geht um die Vernetzung von Maschinen und Menschen zu Bedingungen, die von der Maschine diktiert werden. Es ist die Unterwelt der Benutzeroberfläche, die den FAZ-Herausgeber umtreibt: Maschinenräume im Silicon Valley, die ein Nichtinformatiker niemals zu sehen bekommt. Dort würden unsere digitalen Doppelgänger gebaut. In einer interessanten Disputation im sozialen Netzwerk Google+ ist Schirrmacher dann noch etwas deutlicher geworden.

Vielleicht sollten wir diese Fragen nicht so sehr auf der Meta-Ebene von neurologischen Feuilleton-Beiträgen und Science Fiction-Romanen diskutieren, sondern uns an die Fakten halten. Ob sich unser Bewusstsein verändert und wir zu Abziehbildern von Computerprogrammen degradiert werden, ist ein höchst unterhaltsamer Ansatz für Kinofilme. Das hat eher den Charakter eines „Wrestling-Events“, wie es der Soziologe Gerhard Schulze ausdrückte. Statt Inhalte werden nur Etikettierungen ausgetauscht. Die einen sind Panikmacher, die anderen Zyniker. Man geht zur Tagesordnung über und sucht sich einen neuen Spielplatz, um „Alarm“, „Alarm“ zu brüllen.

„Es ist ja nicht zu bestreiten, dass die Maschinen in vielen Teildisziplinen stärker und besser sind als Menschen. Angefangen bei der Muskelkraft. Heute käme niemand auf den Gedanken, mit einem Industrie-Roboter sich im Armdrücken zu messen“, erläutert Systemingenieur Bernd Stahl von Nash Technologies. Beim Schach oder bei Quizsendungen würde es ähnlich aussehen. Gegen den IBM-Watson sei kein Kraut gewachsen. „Eins darf allerdings in der Schirrmacher-Debatte aber nicht verdrängt werden. Die Petabytes lösen nicht das semantische Problem, sondern sind nur die Hardware-Basis-Voraussetzungen. Kann ein Computer prinzipiell zur Sprache kommen, oder bleibt er nur bestenfalls ein semantischer Blechtrottel? Ob das Internet vergesslich oder dumm macht, hängt nicht mit dem Internet zusammen, sondern liegt an dem, der es benutzt. Hier wabert viel Spekulatives und man begibt sich auf wackeligen Grund. Was allerdings wichtig ist, sind dezentrale Lösungen im Netz. Vielleicht braucht man eine Gewaltenteilung des Wissens, so wie wir es aus der Demokratietheorie kennen und umsetzen“, erläutert der Netzwerkexperte Stahl.

Notwendig wäre wohl auch eine breitere Debatte über die politische Netzneutralität von Infrastrukturanbietern wie Google, Apple oder Facebook. Also nicht die Frage nach dem gleichberechtigten Transport von Datenpaketen, sondern die Zurückhaltung von Konzernen in politischen, moralischen und ethischen Angelegenheiten. Was passiert, wenn digitale Existenzen von Google und Co. einfach ausgelöscht werden? Hier liegt Schirrmacher richtig: „Man existiert nicht, wenn man nicht im Netz existiert“. Das hat jüngst das Magazin t3n beleuchtet: „Google löscht sieben Jahre des digitalen Lebens eines Nutzers und zuckt nur mit den Schultern“. Immer wieder werden Fälle bekannt, wo Google ohne erkennbaren Grund den Stöpsel aus dem Google-Account gezogen hatte. „Gut möglich, dass die meisten Nutzer sich zwar kurz darüber aufregen, sich dann aber woanders ein neues Konto zulegen, weil sie nicht ihre ganze digitale Existenz in die Hände eines einzelnen Anbieters gelegt hatten, wie Dylan es tat“. Hier sollte netzpolitisch der Erregungspegel nach oben gehen: Es geht um das Menschenrecht auf eine digitale Existenz. Ein Suchmaschinen-Anbieter kann nicht vermeintliche Verstöße gegen Nutzungsbedingungen ins Feld führen und das digitale Leben eines Menschen vernichten. Google, Facebook oder Apple dürfen sich nicht zur richterlichen Instanz aufschwingen und entscheiden, was im digitalen Leben richtig oder falsch ist, für welche Produkte geworben werden darf oder welche Nacktfotos über Apps auf Smartphones erscheinen dürfen. Sie sind nicht die Hohepriester, die Urteile fällen können für „Lawful Content“, der selbstverständlich nicht behindert wird. Im Umkehrschluss heißt das ja, was die Web-Giganten als illegal einstufen, kann behindert werden. Liebwerteste Silicon Valley-Bubis, Ihr seid aber nicht Justitia. Hier muss das ordnungspolitische Regelwerk geändert werden. Die Wahrung der Netzneutralität wäre in Deutschland ein Fall für die Bundesnetzagentur. Funktionieren könnte das wie bei den nervenden Werbeanrufen der Call Center.

ist Diplom-Volkswirt, lebt in Bonn und ist Wirtschaftsjournalist, Kolumnist, Moderator und Blogger. Mitglied des Netzpiloten Blogger Networks.


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