Geburtstage sind nicht nur Anlass für Geschenke, oft sind sie mit Erinnerungen an die Vergangenheit verbunden. Das rückwärts gewandte Sinnen bringt so manch gern Vergessenes wieder ans Licht. In der Psychotherapie ist dies die Methode, um traumatische Erlebnisse der Vergangenheit aufzuarbeiten. Nicht zu verwechseln mit dem Begriff der Vergangenheitsbewältigung, der in Deutschland und Österreich gewöhnlich die Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus bezeichnet.
Bei den Geburtstag-Hymnen für den intellektuellen Popstar Marshall McLuhan war diese Begriffsvertauschung aber anzutreffen. So wurde vor einer Woche auf dem Titelblatt des Zeit-Feuilletons neben der Lobpreisung zum 100. Geburtstag die Vergangenheit von Marshall McLuhan ausgekramt. Denn mit Anfang 20 soll McLuhan Franco und Hitler gelobt haben: „Sie seien‚ auf dem richtigen Weg‘ zwischen der ‚Gier des Kapitalismus‘ und der ‚Entmännlichung durch den Sozialismus‘“. Das Hervorholen unliebsamer Erinnerungen scheint besonders zu einem runden Geburtstag Usus zu sein. So traf es auch den französischen Regisseur Jean-Luc Godard zu seinem 80. Geburtstag. Neben der Huldigungen für den glorreichen Vertreter der Nouvelle Vague fragte die FAZ, ob Godard ein Antisemit sei. Anlass dafür gaben verschiedene Hinweise in seinen Filmen. Die FAZ räumte selbst ein, dass die Frage nicht lösbar sei, aber interessant. Wohl interessant, aber nicht ernster zu nehmen als die Schlussfolgerung des dänischen Regisseurs Lars von Trier auf den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes: „Meine Vorfahren sind Deutsche, ich bin also ein Nazi.“…
Doch auch auf die Gefahr hin, dass dieser Geburtstag-Hommage an Marshall McLuhan die interessante Würze fehlt, soll hier die Vergangenheitsbewältigung außer Acht gelassen werden. Stattdessen erinnern wir uns an den Medientheoretiker McLuhan und wiederholen seine Theorie, um ihre Relevanz auf aktuelle Ereignisse zu prüfen. Denn „Wiederholung und Erinnerung sind die gleiche Bewegung, nur in entgegengesetzter Richtung; denn dasjenige, woran man sich erinnert, ist gewesen, wird rückwärts wiederholt, während die eigentliche Wiederholung eine Erinnerung in vorwärtiger Richtung ist“, schrieb Sören Kierkegaard.
McLuhans Prophezeiung einer medial vernetzten Welt, in der wir von viel zu vielen Menschen alles sofort und gleichzeitig erfahren, ist unbestreitbar. „Die Welt ist ein globales Dorf“, schrieb er. Durch neue Medien „nehmen wir, ob wir wollen oder nicht, Anteil am Leben aller anderen“. Daraus entsteht eine neue „Politik“ auf eine Weise, die wir noch nicht wahrgenommen haben, führt McLuhan fort. Oder nehmen wir sie heute wahr?
Nicht nur Fernsehen und Radio berichten von den Aufständen im mittleren Osten. Die arabische Welt scheint auf dem Kopf zu stehen, das zeigt sich vor allen in den neuen Medien. Youtube-Kanäle, Facebook-Seiten und unzählige Blogs berichten über die Revolutionen in Syrien, Ägypten, Libyen, und anderen nordafrikanischen Staaten.
Aufstände gab es durch die gesamte Geschichte hindurch. Menschen, die sich für höhere Löhne oder ein freies Land spontan in einer Bewegung zusammen schlossen, um sich gegen die Obrigkeit trotz Repressionen durch Polizei und Armee aufzulehnen, gab es zu jeder Zeit. Doch etwas ist an den Bewegungen in Nordafrika anders. Zum einem ist die Geschwindigkeit der Ausbreitung neu. Wie ein Lauffeuer verbreiteten sich die Revolutionen beinahe über die gesamte arabische Welt. Und das, obwohl jedes Land seine eigene Regierung und Geschichte hat und die Menschen unterschiedliche Lebensstile führen. Zum anderen ist die Dauer neu. Aus dem arabischen Frühling ist ein Sommer geworden.
Die Welt hat sich verändert, soziale Netzwerke ermöglichen den Kontakt mit Lichtgeschwindigkeit über die Landesgrenzen hinaus. Sie haben eine Öffentlichkeit mit egalitäreren Zugangsmöglichkeiten geschaffen. Facebook, Twitter und Youtube sind durchaus wichtige Werkzeuge der Revoltierenden, aber sind sie Grund für eine derartige Bewegung? Ist eine schnelle Kommunikation Voraussetzung für weitreichende Massenbewegungen?
Fehlende Kommunikationsmittel lassen einen spontanen Aufstand nicht scheitern. 1989 berichteten in Ostberlin und Ostdeutschland weder Fernsehen noch Radio von den spontanen Demonstrationen. Telefone waren nur spärlich in den ostdeutschen Haushalten vorhanden. Der Grund für die Revolution lag an den gesellschaftlichen Veränderungen, gegen die sich der DDR-Staat abzuschotten versuchte.
Die neuen Medien verändern unsere Welt, schrieb McLuhan, sie erlösen uns vom Übel der Gutenberg-Galaxie. Der Buchdruck prägte unser Denken und unsere gesamte Kultur. Die Aufeinanderfolge der Buchstaben hat unsere „Rationalität“ und Logik von der Verwendung zusammenhängender, sequentieller Fakten und Konzepte abhängig gemacht. Wie die Schrift sich aus einzelnen Buchstaben zusammen setzt, so zerlegt sie die Welt. Handlungen und Gewohnheit werden in Einzelschritte zerlegt. McLuhan vergleicht die Zergliederung in Buchstaben mit der Spezialisierung und Aufteilung in Fachgebiete in unserer Gesellschaft. Symbolisch zeigt sich das in der uniformierten Fließbandware der Massenproduktion und anhand des Rasenmähers in der amerikanischen Reihenhaussiedlung.
Erst die neuen Medien, so McLuhan, erlösen uns von den Grenzen der Schrift und führen uns zurück in den akustischen Raum. Einen Raum ohne Grenzen, in dem wir nicht eins nach dem anderen, sondern alles gleichzeitig wahrnehmen können. Das globalen Dorf ist ein „Happening der Gleichzeitigkeit“, Raum und Zeit sind verschwunden.
In der arabischen Welt sind neuen Medien präsent wie anderswo. Menschen surfen im Internet, es gibt Fernsehen und Radio. Dennoch ist diese Welt schriftlich geprägt. Der Koran formte die Kulturen als geschriebenes Wort. Er setzte das Bilderverbot konsequenter um, als die Bibel in christlich geprägten Kulturen. Ein Ausdruck dieses Verbots ist die Arabesken-Kunst, in der Schriftzeichen als Ornamentik kunstvoll ausgearbeitet werden. Die schriftlich lineare Welt, nach McLuhan, wird durch strikte Hierarchien geordnet, die ihre Strukturen gewaltsame durchsetzt und religiös indoktrinieren.
Im Gegensatz dazu sind neuen Medien anstatt linear, anonym, sofort und gleichzeitig. Sie bieten einen egalitären und freien Zugang, sodass über die Teilnahme zu jeder Zeit frei entschieden werden kann.
Obwohl neue soziale Medien wie das Internet sich weiterhin der Schrift bedienen, sind sie nicht mehr linear. Blog-Kommentare, SMS und Kurznachrichten sind wie die mündliche Sprache flüchtig, widersprüchlich und paradox – sie sind geschriebene Mündlichkeit.
Warum also diese Aufstände in der arabischen Welt? Nach McLuhan erschließt sich der Grund dieser Revolutionen nicht nur aus dem Leid und Hunger der Menschen. Auch theoretische Begriff wie „Freiheit“ oder „Demokratie“ treiben nicht die Menschen auf die Straße.
Vielmehr wehren sich die Bürger der nordafrikanischen Staaten gegen eine Ordnung, die in ihrem Leben und für den medialen Lebensalltag keinen Sinn mehr macht. Sie nutzen wie wir Internet, Smart-Phone, Fernsehen und andere Medien. Die Logik dieser Medien ist der Logik einer hierarchisch geordneten Schrift entgegengesetzt. Eine neue Logik bedeutet auch ein neues Denken. Wenn sich also die mediale Umwelt verändert, verwandelt dies auch den Menschen. „Und das verändert alles“, prophezeit McLuhan.
Ob die arabische Welt wirklich von Grund auf verändert wird, bleibt abzuwarten. Eine Wiederholung McLuhans Medientheorie auf aktuelle Ereignisse zeigt sich aber mindestens genauso interessant wie biographische Einzelheiten zu seiner Person.
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Schlagwörter: Afrika, McLuhan, Netztheorie, revolution
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