Shitstorm vs. Flauschstorm

Anatol Stefanowitsch hat am Wochenende bei Google+ einen neuen Begriff geprägt: den Flauschstorm. Als Gegenentwurf zum allseits bekannten Shitstorm, der über Firmen und Menschen hereinbricht, die Problemen oder Fehlern nicht mit angemessener kommunikativer oder sozialer Kompetenz begegenen (das Abschalten von Fanpages oder Foren wegen negativer Kommentare etc.). Er schlägt vor, „Menschen, die mehr als den ihnen zustehenden Anteil an Shitstorms über sich ergehen lassen mussten und müssen, einen Tag lang aufrichtig und vor allem ironiefrei liebe Dinge zu sagen, ihnen zu sagen, was sie alles gut und richtig machen, sie ganz allgemein mit Lob und verbalen Knuddeleinheiten zu überschütten. „. Dabei denkt er zunächst an die 15 Piraten im Berliner Abgeordnetenhaus. Denn viele ihrer Startprobleme seien auf die gänzlich neue Situation zurückzuführen, die das Umschalten von der Privatperson zur öffentlichen politischen Person in den Medien zur Folge und das obowhl sie die bequeme Position, die wir alle innehaben, Schiedsrichter auf der Couch zu sein, aufgegeben hätten, um etwas zu ändern.

Ich würde mich liebend gern diesem Appell anschließen, wenn ich nicht den Eindruck hätte, dass es einige Politiker in allen Parteien gibt, da schließe ich die Piraten nicht aus, die exakt solche öffentlichen Situationen aufsuchen, um die fehlende Anerkennung, die aus verschiedenen Gründen viele ihrer Aktivitäten motiviert, einzufordern. Es gab und gibt Politiker in allen Parteien, die einfach ihre Arbeit machen. Es mag langweilig sein, was sie tun, aber sie fallen seltsamerweise nicht in das Raster, das erfüllt werden muss, um einen Shitstorm auszulösen. Denn das Problem ist nicht das Fehlermachen sondern die verquaste und mißverständliche Kommunikation hinterher. Insofern hätten ein wenig mehr Geduld und Beobachtungsgabe einige Shitstorms erst gar nicht entstehen lassen. Besonders seltsam ist das eben bei den Piraten, die ja schon jahrelang die Entstehung von Shitstorms beobachten konnten. Ich verstehe daher den Ansatz von Anatol, aber ich kann ehrlich gesagt in vielen Fällen feststellen, dass die bösen Shitstorms eine ähnliche Aufgabe erfüllen wie die vielgescholtenen Rating-Agenturen: Sie machen den letzten Hinterbänkler und Hinterwäldler auf Probleme oder Fehler aufmerksam, die er oder sie vorher einfach nicht beachtet hätte. Dass bei nicht wenigen Shitstorms, die Kommentatoren vielfach das allgemeine Persönlichkeitsrecht mißachten und/oder sich selbst entwerten mit ihren abseitigen verbalen Attacken wird durch eine Flauschstorm nicht thematisiert. Das Internet ist eine orale Kultur, die den spontanen Augenblick einfriert. Das erfordert unter anderem eine neue Ethik im Umgang miteinander und vor allem sollte es alle Beteiligten klar sein, dass sie nicht nur andere zum Affen machen – und das über Jahre nachprüfbar. Leider findet eine substanzielle Auseinandersetzung mit diesem Themenkomplex auch nicht in den geschliffenen Sonntagsreden und Sonntagstexten auf den diversen Blogs und Webkonferenzen statt. Es wäre schon schön, wenn Sascha Lobo mal wieder seine Finger in irgendeine Wunde legt, dass man es nicht nur mit einem eifrigen Kopfnicken belässt. Denn das ist aus meiner Sicht, der eigentlich Flauschstorm. Ein nettes Abnicken der Gemeinplätze, die so bilfhaft beschrieben wurden, dass alle zustimmen. Genau mit derselben Haltung lehnen dieselben Leute die hakelige Kommunikation vieler PR-Profis und Firmen im Shitstorm ab: mit einem mehr oder weniger reflektierten Kopfschütteln.

  ist seit 1999 als Freier Autor und Freier Journalist tätig für nationale und internationale Zeitungen und Magazine, Online-Publikationen sowie Radio- und TV-Sender. (Redaktionsleiter Netzpiloten.de von 2009 bis 2012)


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