Der Hirnforscher Manfred Spitzer – Digitaler Demenzpatient

Als die erste Dampflok fuhr, glaubten einige, der Mensch müsse an der Geschwindigkeit zugrunde gehen. Der Hirnforscher Manfred Spitzer glaubt, das Web sei eine Dampflok.

Manfred Spitzer, der vom Intellektuellen-Blatt „Bild“ zum berühmtesten Hirnforscher in Teutonia gekürt wurde, leidet unter digitaler Demenz. Das ist tragisch und wohl das Ergebnis der täglichen Nutzung von PC und Handy.

Wer die Geschehnisse über die Schlacht im Teutoburger Wald nicht mehr in dem vielbändigen Meyers Konversationslexikon recherchiert und mit Federkiel seine Notizen über die Heldentaten von Arminius festhält, sondern den bequemen Rechercheweg über Wikipedia einschlägt, denkt weniger. Das Gehirn von Spitzer arbeitet wie ein Muskel und baut dramatisch ab, wenn seine Finger nicht mehr das gebräunte Papier seiner Bibliothekssammlung berühren können. In der virtuellen Hängematte leidet der Geist des Wissenschaftlers.

Auch kann er den Norden nicht mehr vom Süden unterscheiden, da sein heimtückisches Navigationsgerät alles besser weiß und im Kasernenton die Richtung vorgibt. Der orientierungslose Neuro-Autobiograf ist sich nicht mehr im Klaren, ob er während seiner sommerlichen Expeditionen noch im Atlantik schwimmt oder eher im Roten Meer.

Das ganze Elend des Cyberspace

Das Internet vermanscht sukzessive das Gehirn des Forschers. Nur noch Facebook ist in der Lage, die persönlichen Daten vom Jahr seiner Geburt bis zur Telefonnummer seines mobilen Endgerätes zu verwalten. So häufen sich die neuronalen Verwirrungen bei der Unterscheidung des Hippocampus von den Bio-Weisheiten eines prominenten Hipp-Hipp-Hurra-Dafür-stehe-ich-mit-meinem-Namen-Babynahrungsfabrikanten.

Semantisch leidet der digitale Demenzpatient unter den asynchronen Lauten des Spracherkennungssystems Siri. Zungenbrecher wie „Zehn-zahme-Ziegen-ziehen-zehn-Zentner-Zucker-zum-Zoo“ kommen dem verständnislosen Internet-Experten immer weniger über die Lippen. Gravierend ist vor allem die Copy-Paste-Funktion seiner PC-Tastatur bei der Verarbeitung von Texten, die sich als unlesbarer Wortbrei in die Publikationen des Spitzenforschers ergießen.

Sinnkrisen und schmerzverzerrte Gesichtszüge

Das ganze Elend des Cyberspace muss der spitzfindige Internet-Allergiker in mentaler Vereinsamung ertragen, da sich seine Twitter-Follower und Facebook-Friends täglich wundern, warum er sein Tweed-Sakko für einen Tweet hält sowie flüchtige Web-Bekanntschaften den Freunden und Verwandten vorzieht.

Die persönliche Isolation treibt der demente Buchautor mit 0-1-Phantomschmerzen auf die Spitze, da er weder bei Twitter noch Facebook mit eigenen Accounts präsent ist – ins Mark Zuckerberg-Imperium wagt sich der liebwerteste Hirn-Gichtling nur mit Perücke. Freundschaftsanfragen stürzen die digitalen Weggefährten von Spitzer deshalb in noch stärkere Sinnkrisen und erzeugen schmerzverzerrte Gesichtszüge, die als Grinsen kaschiert werden.

Erniedrigend empfindet der berühmteste „Bild“-Gesprächspartner die zunehmende Smartphone-Intelligenz, die zu immer geistloseren Interviews mit seriösen Qualitätsprintmedien beiträgt. Als Schande für die Hochschullandschaft wertet er das Bekenntnis des Philosophen David Chalmers, der einen Teil seines Geistes dem iPhone von Apple überlässt. Chalmers nutzt den Minicomputer als erweiterten Geist, macht keine Notizen mehr auf Papier, speichert Informationen ohne physikalische Limitierung und brilliert dennoch als eloquenter Redner auf der internationalen Bühne. Kritiker von Chalmers sprechen schon von Informatik-Doping.

Der weltbeste „Bild“-Neuro-Guru

Damit Manfred Spitzer wieder mehr Kontrolle und Selbstbeherrschung über sein neuronales Dasein bekommt, schlagen Ärzte und Apotheker das Computerspiel „Der Landwirtschaftssimulator“ als geeignete Antistress-Therapie vor. Umgeben von Kühen, satten Weiden und langsam durch die Gegend tuckernden Traktoren kann der weltbeste „Bild“-Neuro-Guru seine dementen Akkus wieder aufladen. Ob nun das Fahrzeug nach links oder rechts fährt, ist bei diesem Programm zur Rehabilitation völlig egal. Ab und zu gackern die Hühner, um den Demenzkranken bei Laune zu halten.

Jedes andere Computerspiel würde den Spitzer-Geist zu sehr beanspruchen: Kombinatorik, Reaktionsschnelligkeit, Taktik, Strategie, Raffinesse, Merkfähigkeit und Feinmotorik sind die Grundlagen für erfahrene Gamer. Spitzer könnte auf der Gamescom in Kölle nicht einen Tag überleben – virtuell.


Mehr zu Themen des Netzes und dem digitalen Wandel gibt es auch vom European-Kolumnisten Lars Mensel in seinem aktuellen Artikel „Weibliche Führungskräfte in der Technikbranche: Feuerwehrfrau“.


Text: Der Artikel „Der Hirnforscher Manfred Spitzer – Digitaler Demenzpatient“ von Gunnar Sohn ist zuerst erschienen auf www.theeuropean.de


ist Diplom-Volkswirt, lebt in Bonn und ist Wirtschaftsjournalist, Kolumnist, Moderator und Blogger. Mitglied des Netzpiloten Blogger Networks.


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