In Zeiten größter Krise wendet sich „Netzpiloten“-Autor Tobias Gillen an seinen guten, alten Freund: Die Tageszeitung.
Liebe Tageszeitung,
Du weißt, wir stehen uns ziemlich nah. Ich schreibe nicht nur in dich rein und du finanzierst mir zum Teil meine Brötchen, nein, ich hole dich auch jeden Morgen aus dem kalten Briefkasten ins warme, kuschelige Haus. Wir frühstücken zusammen und wenn du mir besonders gefällst, nehme ich dich manchmal sogar mit auf eine Reise durch meinen Tag.
Doch es ist Zeit, dass ich jetzt offen mit dir spreche. Das hast du verdient, als mein treuer Begleiter. Wir kennen uns nun schon so lang, ich muss dir jetzt die Wahrheit sagen: Wir beide, wir werden nicht mehr lange Hand in Blatt durch die Welt gehen können. Du bist schwer krank, viele Menschen sprechen sogar von deinem Tod. Andere meinen, du musst einfach nur deinen Lebensstil verändern. Und auch wenn du mir sehr ans Herz gewachsen bist, glaube ich, dass diese Menschen Recht haben – es kann so nicht weiter gehen.
Du bist zu alt geworden, deine Reife macht dir nun zu schaffen. Wer braucht schon eine alte Papier-Tageszeitung, wenn er doch alles auch in diesem neuen Internet bekommen kann? Und überhaupt: Wer morgens keine Zeit hat, dich zu lesen, der weiß doch am Abend schon alles, was in dir drin steht. Warum musst du denn auch immer in der Nacht gedruckt werden? Diese ständigen Nachtschichten tun deiner Gesundheit auch nicht gut. Denk doch mal darüber nach, vielleicht erst am Abend zu erscheinen. Ich weiß, dann haben wir weniger Zeit miteinander, aber dafür ist diese Zeit dann gleich viel intensiver. Wir kämen uns dadurch mit Sicherheit noch viel näher! Und was, wenn mich gar nicht alles an dir interessiert, sondern nur einzelne Artikel?
Vielleicht musst du dich aber auch für Veränderungen öffnen, weil so, wie du dich momentan in diesem Internet präsentierst, wirst du auch dort früher oder später wieder krank werden. Es genügt einfach nicht, dass du alles, was auf deinem Papier steht, einfach 1:1 ins Internet kopierst. Nutze doch deine neuen Möglichkeiten zu einem flexibleren, jüngeren und erfüllteren Leben.
Sind wir doch ehrlich: Ohne genug Geld wird deine Behandlung nicht finanzierbar. Ich kann es nicht alleine bezahlen, du musst dir neue Möglichkeiten überlegen. Aber bitte keine Verbote, mit denen du die Leser verscheuchst. Viel wichtiger wäre es doch, dass du endlich verstehst, dass auch kleine Beträge viel wert sein können. Vielleicht hilft dir ja dieses Video dabei, das zu verstehen:
Du musst endlich anfangen, neue Wege zu gehen. Mobil werden, sozialer, dich neu erfinden, neue Methoden entdecken, vielleicht lokaler werden, vielleicht viel flexibler. Und vielleicht ist danach nichts mehr so, wie es einmal war, aber so wie es jetzt ist, geht es nicht weiter. Mir fehlt die Kraft, dich morgens in ständiger Angst um dein Leben ins Haus zu holen. Immer wieder kommt mir der Gedanke an den Tag, an dem du nicht mehr im kalten Briefkasten liegst. Schlimmer noch: Der Gedanke an den Tag, an dem ich ein iPad-Abo für dich bestellen muss.
Du weißt selber, dass du vieles falsch gemacht hast in der letzten Zeit. Du hättest früher aufwachen müssen, aber im Nachhinein ist das immer so leicht gesagt. Ich hoffe, du verstehst wenigstens jetzt, dass du dich endlich ändern musst.
Wir sehen uns morgen Früh,
Dein Freund Tobias
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Schlagwörter: Brief, Tageszeitung, Tobias Gillen, Zeitungskrise, Zeitungssterben