Pflichtfach Informatik? Warum Schulen Superkräfte unterrichten sollten

Katharina Große, Tinka genannt, schreibt in ihrer Kolumne über den digitalen Wandel in unserer Gesellschaft. Diesmal geht es um die Notwendigkeit von Informatikunterricht an Schulen. Sollte Informatikunterricht als Standardfach in Schulen unterrichtet werden? Vor einigen Tagen wurde ich Zeuge einer sehr erhitzten Diskussion zu dem Thema, die sich im Grunde in drei Argumentationsstränge zusammenfassen lässt.

Nummer 1: Informatik ist Programmieren und nur für einige Leute später einmal relevant. Das gehört auf keinen allgemeinbildenden Ausbildungsplan. Nummer 2: Informatik ist Programmieren, und nur für einige Leute später einmal relevant. Genau wie Mathe, Physik, Chemie, Bio und die meisten anderen Fächer. Es gehört zu einer allgemeinen Ausbildung, jedem eine möglichst breite Basis für die Zukunft zu geben. Ob man Informatik weiter verfolgt, ist jedem selbst überlassen, aber die Chance dazu sollte jeder erhalten. Nummer 3: Bei Informatik geht es nicht um Programmieren. Es geht um ein grundlegendes Verständnis darum, in Prozessen denken zu können. Es geht darum, Medienkompetenz zu erlangen. Das ist essentiell für jeden Schüler und muss daher Pflicht sein auf jedem Lehrplan. Die Wahrheit, denke ich, liegt irgendwo zwischen 2 und 3. Was sich zeigt, wenn man folgende Fragen beantwortet: 1. Was sind Informatik und Medienkompetenz und wofür brauchen wir das? 2. Wie viel Programmieren muss in Informatik stecken? Was ist das und was sollen wir damit? Wenden wir uns der ersten Frage zu. Zuerst muss einmal geklärt werden was Informatik und Medienkompetenz überhaupt sind. Wikipedia zitiert den Duden und sagt: Informatik ist die „Wissenschaft von der systematischen Verarbeitung von Informationen, besonders der automatischen Verarbeitung mit Hilfe von Digitalrechnern“. Medienkompetenz beschreibt die Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ (EIdG) wie folgt (Quelle, S. 5): „Medienkompetenz wird in der wissenschaftlichen Diskussion keineswegs reduziert auf technisch-manuelle Fertigkeiten verstanden, sondern bezeichnet eine Spannbreite von kognitiven, affektiven und konativen (also das Denken, Fühlen und Handeln betreffende) Fähigkeiten, die ein medienkompetentes Individuum aufweisen sollte.“ Medienkompetenz zu vermitteln hat laut EIdG unter anderem folgende Ziele (S. 32):

  • Technische Grundkenntnisse über Infrastruktur und Programmieren. Primär geht es um das Verstehen von Zusammenhängen, das zu einem weiterführenden Selbststudium befähigt.
  • Fähigkeit zum Bewerten und Filtern von Informationen. Wo finde ich was und wie viel? Wie vermeide ich Einseitigkeit? Was ist glaubhaft?
  • Schulung des Risikobewusstseins. Was passiert mit meinen Daten? Wo sind mögliche Kostenfallen? Wem kann ich trauen?
  • Kreativität und Fähigkeit zur Weiterverwertung und zum Erstellen von Inhalten. Wie blogge ich? Wie drehe ich Videos und stelle sie online?

Medienkompetenz scheint also Informatik mit einzuschließen: Was sind Informationen, wie können sie verarbeitet werden und wie sollten sie verarbeitet werden? Warum nun, gehört ein Fach auf den Lehrplan, dass diese Fragen beantwortet? „Zum einen mag dies daran liegen, dass Medienkompetenz die einzig verbliebene Antwort auf viele komplexe Fragestellungen ist“ schreibt die EIdG (S.4). Medienkompetenz sei eine „Schlüsselqualifikation“ in der modernen Gesellschaft (S. 5). Damit diese reichlich abstrakten Behauptungen ein wenig mehr Form annehmen, schauen wir uns das Ganze am besten aus der Nähe an. Seite 1: Das Monster aus dem InternetCyberbullying, sexuelle Anmache, Abzocke, Identitätsklau…“ die EIdG (S.4) listet die offensichtlichen Gefahren. Hier ist wohl jedem klar, dass es Schutz braucht vor solchen Vergehen. Wenn es nur darum ginge, dann müsste man auch Selbstverteidigung auf den Lehrplan setzen. Erwähnenswerter sind meiner Meinung nach die subtileren Herausforderungen des Digitalen. Es geht nur darum, wie man einen Räuber abwehrt (oder auch nicht). Es ist vielmehr wichtig zu verstehen, wo sich Räuber eventuell aufhalten, wie man ihre Lügen erkennt, welche gesellschaftlichen Strukturen Kriminalität begünstigen und was die Polizei dagegen unternehmen sollte – und was nicht. „Sind wir vielleicht naiv zu glauben, unsere Daten würden nicht weitergegeben oder zumindest verkauft?“ fragte ZDF Log-In auf Facebook und trifft es damit ziemlich auf den Punkt. Laut Prof. Dr. Sabine Trepte haben die Kids von heute eine andere Einstellung zu Privatsphäre. (Oder eher: Einige Kids, die viel preisgeben wollen, haben ganz andere Möglichkeiten dazu). Kein Problem. Kritisch wird es erst, wenn sie sich ihrer eigene Öffentlichkeit nicht bewusst sind (Quelle), das heißt, wenn sie sich nicht bewusst sind, wer ihre Facebook-Posts mitliest. Dank Facebooks Privatsphäre-Einstellungen-Verschleierungsstrategie ist das ja zugegebenermaßen auch nicht so einfach. Und wer hat eigentlich vor Obama Is Checking Your Email wirklich darüber nachgedacht, ob ein Geheimdienst unsere Tweets auswertet, ob nun die NSA oder der BND? Und wer befasst sich von alleine damit, ob es nun ein Problem ist, dass der eigene Staat alles über mich weiß. Immerhin habe ich ja nichts zu verstecken? Wer hat eigentlich mitbekommen, dass international mal wieder über ein Handelsabkommen diskutiert wird, dass sich auch um intellektuelle Güter dreht? Und wer freut sich, dass die EU zumindest überlegt, ob das so eine gute Idee ist? Wissen die Kids eigentlich, dass einige Regierungen das Internet, das für die fast so wichtig ist wie gute Freunde und Familie (Quelle, S. 9), filtern und sperren wollen? Medienkompetenz in der Schule ist also nicht nur Selbstverteidigung, sondern das Kennenlernen und Diskutieren über den eigenen Lebensraum. Es gehört daher genauso auf den Stundenplan wie Geschichte, Sozialkunde, Gemeinschaftskunde, Politik und wie diese Fächer sonst noch heißen mögen. Wäre es nicht wichtig, dass Schüler darüber diskutieren, wie Google Glass unsere Welt verändert oder was uns was nicht sie über (Google?) Waze von sich übermitteln wollen? Stoßen wir diese Gedanken nicht in der Schule an, bleibt uns nichts anderes über, als mehr oder weniger erfolgreich auf die technische Entwicklung zu reagieren, die von großen und kleinen Unternehmen vorangetrieben wird. Und wir müssen hoffen, dass genug Kompetenz von alleine heranwächst, die die Aufmerksamkeitserregung und Weiterbildung für uns übernimmt. Können wir das Risiko eingehen? Seite 2: Wir brauchen diese Leute „Doch Medienkompetenz bedeutet nicht nur das Abwenden von Risiken, sondern auch die Wahrnehmung von Chancen – vor allem der zahlreichen Bildungschancen“, (Quelle, S. 4). Medienkompetenz ist wichtig für die Teilhabe an Staat und Wirtschaft befindet die EIdG (S. 10) und begründet damit sehr gut, warum Medienkompetenz nicht nur dem Schutz dient, sondern auch der Weiterentwicklung der Gesellschaft. Was funktioniert noch ohne Informationstechnologie? Unternehmen präsentieren sich auf Websites und gewinnen Kunden und Mitarbeiter online. Dort verkaufen sie auch ihre Produkte. Und wenn nicht, dann wird die Logistik eines Offline-Verkaufs mit der Hilfe von Computern gesteuert. Es ist also essentiell, dass Nachwuchskräfte zumindest die Prozesse verstehen und Systeme steuern können. Genauso scheint es hilfreich, wenn ich als Bürger online eine Frage an einen Abgeordneten stellen kann, oder elektronisch meine Steuererklärung einreiche. Es hilft mir auch, wenn ich Beteiligungstools bedienen kann und E-Petitionen erstellen. Das scheint für einige von uns selbstverständlich, aber ist es das wirklich? Und viel wichtiger: Selbst wenn ich es könnte, würde ich es auch machen, wenn ich an diese Prozesse herangeführt werde? Dass auch der Staat auf derartige Qualifikationen nicht verzichten kann zeigt sich bei den Diskussionen über einen sogenannten Internetminister, der ein ITler sein soll, und kein Jurist. Verwaltungen müssen sich damit auseinandersetzen, wie sie Soziale Medien nutzen und wie sie neue Technologien zur Zusammenarbeit einsetzen können. Es braucht also Mitarbeiter, die genügen Hintergrundwissen haben. Und wer entwickelt die ganzen Verwaltungsapps, die wir uns alle so sehr wünschen? Code for America bring Informatiker für ein Jahr in amerikanische Verwaltungen, um dort viele tolle Ideen endlich auch umzusetzen. Der Verwaltung selbst fehlt oft die nötige Kompetenz – auch in Deutschland scheint es Bedarf für so eine Initiative zu geben. Wie viel Code brauchen wir wirklich? Das bringt uns zur nächsten Frage: Wie viel Programmieren muss in Medienkompetenz stecken? Eigentlich muss ich die Frage nicht beantworten. Das macht code.org für mich: Zumindest ein wenig und zwar für jeden! Natürlich kann man Schülern nicht fließend C++ beibringen, genauso wenig, wie die meisten nicht fließend Französisch lernen. Aber es werden die Grundlagen gelegt, die Barriere zur Sprache abgebaut (zumindest, wenn der Unterricht vernünftig ist!). Genauso sollten wir Programmieren behandeln, wie eine zweite Fremdsprache. Natürlich wird nicht jeder weitermachen und zum Software-Entwickler werden. Es studiert auch nicht jeder Französisch an der Uni. Aber zumindest in Paris den Metro-Plan lesen und nach dem Weg fragen können, das können sie. Und woher kommt der Zaubermeister? Wir haben also festgestellt, dass Informatik zum Standardrepertoire jeder Schule gehören sollte. Natürlich ist das in einigen Schulen schon der Fall, aber eben nicht in allen – und genau das müssen wir anstreben. Nun stellt uns diese Forderung natürlich vor ein riesiges Problem: Wer soll unseren Schülern denn diese ganzen neuen Fähigkeiten beibringen? Wenn es nicht einmal genug Kompetenz gibt, um alle offenen Stellen zu besetzen, wer soll dann unterrichten? Hinzu kommt noch, dass sich Umgebungen und Instrumente so schnell weiterentwickeln, dass selbst die Generation knapp oben drüber offenbar keine Ahnung mehr hat, wo sich die Kids so rumtreiben. Da hilft nur „das bisherige Bild des Lehrers aufzugeben“, wie Jürgen Ertelt (Quelle, S. 32) so schön formuliert. Wir müssen hin zu einer Form des Lernens, die Gemeinsamkeit in den Vordergrund rückt. Es geht hier nicht um Wissensvermittlung – nicht nur. Es geht darum, Aufmerksamkeit auf bestimmte Themen zu lenken und Diskussionen anzustoßen. Für den Einstieg ins Programmieren kann man ja vielleicht einen digitalen FSJler engagieren, wie ihn die SPD vorschlägt. Außerdem muss es möglich sein, dass Quereinsteiger zur Hilfe kommen. Ob das nun Software-Entwickler sind, Prozessmanager oder Oberstufen-Schüler, die sich selbst beigebracht haben zu programmieren. Was sonst noch wichtig ist Und jetzt? Was heißt das alles? Ganz klar: Ja, Medienkompetenz und Informatik müssen einen festen Platz in jedem Lehrplan haben. Wichtig dabei ist auch der Einstieg in das Verständnis von technischen Zusammenhängen und Programmierung – und zwar nicht als Nerd-AG, sondern als ganz normales Unterrichtsfach – und zwar für beide Geschlechter. (Muss ich das überhaupt betonen?) Natürlich geht das nicht ohne Geld. Irgendwo muss die Infrastruktur herkommen. Ob das nun über PC-Räume in Schulen gelöst wird oder über die individuelle Ausstattung der Schüler (Quelle, S. 4), beides geht nicht ohne Investitionen. Doch das sollte es uns wert sein. Immerhin ist Programmieren die Superkraft unserer Zeit!


 

Image (adapted) „Blue Glow“ by Jim Sneddon (CC BY 2.0)


Die Kolumne von Katharina Große ist Ergebnis der Medienkooperation zwischen dem Lehrstuhl für Verwaltungs- und Wirtschaftsinformatik an der Zeppelin Universität (ZU) in Friedrichshafen und Netzpiloten.de.

(Tinka) arbeitet und forscht am Lehrstuhl für Verwaltungs- und Wirtschaftsinformatik an der Zeppelin Universität (ZU) in Friedrichshafen. Nach ihrem Bachelorstudium an der International Business School in Groningen in den Niederlanden absolvierte sie an der ZU einen Master in Politik- und Verwaltungswissenschaften. Tinkas Forschung konzentriert sich auf die Rolle des Bürgers in der digitalen Demokratie. Außerhalb von Deutschland hat Tinka schon in Frankreich, den Niederlanden, Kanada und Spanien gelebt und spricht die jeweiligen Sprachen. Momentan arbeitet sie daran, der Liste noch Arabisch hinzuzufügen. Tinka reitet, rudert, fährt Snowboard und ist überzeugter Werder-Fan.


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3 comments

  1. Wie ist eigentlich das „zwischen“ in der Bezeichnung der ZU als „Hochschule zwischen Wirtschaft, Kultur und Politik“ zu verstehen? Wir verstehen uns als spezialisierte Generalisten. Auf der einen Seite haben wir alle unsere individuellen Interessen, denen wir leidenschaftlich nachgehen und damit teilweise auf wissenschaftlicher oder wirtschaftlicher Ebene beeindruckende Ergebnisse produzieren. Auf der anderen Seite sind die Themen so komplex, dass es zu einem starken interdisziplinären Austausch zwischen den Studierenden der drei Studienrichtungen Wirtschaft, Kultur und Kommunikation sowie Politik und Verwaltung kommt. Besonders stark ausgeprägt ist dies in den ersten zwei Trimestern unseres Bachelor-Studiums, der „Foundation Phase“. Hier besuchen alle Studienbeginner die gleichen Einführungskurse in den verschiedenen angebotenen Studienrichtungen und bekommen eine Ahnung davon, mit welchen Theorien die verschiedenen Geisteswissenschaften soziale Phänomene untersuchen. Erst nach diesem Einblick entscheiden die Studenten über ihren Studienschwerpunkt.

  2. Verpflichtend würde ich das Ganze nicht machen. Pflicht erzeugt immer Druck und fördert keine freiwilligen Interessen. Ich würde es vermehrt und schon in niedrigeren Klassenstufen als Wahlfach anbieten.

  3. Das Problem ist, dass es als Wahlfach wieder nur diejenigen wählen, die Interesse haben. Das setzen wir bei Mathe, Bio etc. auch nicht um. Ich denke also, bevor wir nicht unser Schulsystem komplett auf Wahlfreiheit umstellen, müssen zumindest die Grundlagen Pflicht sein.

    LG
    Tinka

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