Kunden müssen an Masochismus leiden, wenn eine Umfrage stimmt, die der oberste Callcenter-Verbandsvertreter Manfred Stockmann auf dem Berliner Fachkongress CCW im Hotel Estrel präsentierte (Callcenter will der Veranstalter wohl nicht mehr in den Mund nehmen): Demnach reagiert jeder zweite Kunde, der mit einem Unternehmen unzufrieden ist, dennoch nicht mit Kündigung. Vielleicht mit innerer Kündigung wegen seelischer Grausamkeit, aber er löst seinen Vertrag nicht auf. Vielleicht ist der zerknirschte Kunde ja auch gar nicht gefragt, ob er zu einer Fortsetzung der Geschäftsbeziehung bereit ist (Prinzip: Man soll keine schlafenden Hunde wecken) oder es passiert im Alltag das, was Warteschleifen-Experte Tom König in seinem CCW-Vortrag zum Ausdruck brachte: „Ich bin ein Kunde, holt mich hier raus.“
Wenn mir einer dieser nervigen Hotline-Werbeanrufe irgendwelche Upgrade-Sonderaktion-Cross-Selling-alles-wird-jetzt-besser-schneller-und-preiswerter-Bundle-oder-sonstige-Quatsch-Angebote ins Ohr blökt, reicht ein profanes „Ja“ und die gesamte Vertragsumstellung verläuft unsichtbar wie von Zauberhand dirigiert.
Unverbindliche Sex-Shows mit Herrengedeck
Bei profanen Änderungen der Kontonummer, einer Umstellung des Vertragspartners oder gar einer Kündigung, beginnt ein undurchsichtiger Marathonlauf mit fast unüberwindbaren Hürden.
Motto: Irgendwann wird doch der nervige Kunde mit seinem umständlichen und nicht umsatzsteigernden Anliegen aufgeben und uns in Ruhe lassen. Wie das funktioniert, hat „Spiegel“-Kolumnist König treffend analysiert. Auf der Reeperbahn könne man einen Beruf in Aktion erleben, den es so kaum noch gibt: den des Koberers. Er steht vor irgendeinem Sexlokal und versucht, die vorbeiflanierenden Fußgänger anzukobern und für sein Etablissement zu begeistern.
„Ein guter Koberer vermittelt glaubhaft, man könne in die ,Nasse Katze‘ ganz unverbindlich reinschauen – und sie bei Nichtgefallen jederzeit wieder verlassen. Sobald der Koberer den Kunden über die Schwelle bugsiert, muss Letzterer freilich erkennen, dass drinnen eine Überzahl leichter Mädchen und schwerer Jungs das Sagen hat. Klar darf er wieder gehen, aber erst nach dem Verzehr dreier Herrengedecke zu je 100 Euro. Es gibt auf dem Kiez nur noch ein paar Läden, die so operieren. Warum? Weil die meisten Koberer umgeschult haben. Sie arbeiten jetzt in den Vertriebsabteilungen diverser Versorger und Telekomfirmen.“
Kündigung nur mit Fax in fünffacher Ausfertigung möglich
Der Vertragsabschluss funktioniert ganz easy per Mausklick oder mit dem von mir gerade erwähnten Hotline-Jawort; Kündigung oder Vertragsänderung ohne Upgrade-Gedöns nur auf handgemeißelter Marmortafel in fünffacher Ausfertigung.
Aus dem Plug-and-Play-Juhu-ein-neuer-Kunde wird dann schnell ein Internetausdrucker-Imperium. Wer nach stundenlanger Recherche auf der Website irgendwelche Buttons zur Vertragsänderung drückt, bekommt den Hinweis, folgendes Formular auszudrucken, Kopien beizulegen und das Ganze per Fax (?!) oder Post an irgendeine Service-Wir-tun-alles-für-Sie-Adresse zu schicken. Wer hier versagt, wird vom Anbieter als geistig nicht zurechnungsfähig eingestuft oder als Lügner abgestempelt.
Ähnlich verhält es sich ja mit den AGB-Orgien, bei der kein Kunde die Nerven hat, sich durch 100 Seiten Regelwerk zu arbeiten. Deshalb lügen wir bei jedem Klick auf das Feld „Ich habe die allgemeinen Geschäftsbedingungen sorgfältig gelesen und akzeptiere sie“.
Als Ergebnis kann uns wegen moralischer Vergehen der virtuelle Tod durch maximale Account-Löschung blühen – etwa bei den Cloud-Diensten der amerikanischen Technologie-Giganten.
Partisanen im Service-Kampf
Einen Trend zur Social-Web-Kommuikation im Service kann der Call Center Verband übrigens auch nicht so richtig erkennen. Auch nicht das massive Anwachsen der asynchronen Kommunikation in schriftlicher Form. Der Griff zum Telefon würde sich bei komplexen Fragen immer noch bewähren. Hm. Es mag ja so sein, dass die meisten Firmen die anonyme 1-zu-1-Gesprächssituation an der Hotline immer noch lieben – unter Ausschluss der Öffentlichkeit.
Unterdessen lieben es Kunden, auf Twitter und Facebook über diese Firmen sich auszutauschen. Und wenn der Service mies ist, empfiehlt „Spiegel“-Mann König eine verschriftete Social-Web-Guerilla-Taktik.
„Nehmen wir an, Sie ärgern sich über die unverschämt hohen Gebühren, die Ihre Bank für eine Transaktion berechnet hat. Sagen Sie es nicht dem Schalterfuzzi. Schreiben Sie keinen Brief an das Servicecenter. Machen Sie stattdessen ein Foto Ihres Kontoauszugs und posten Sie es bei Flickr oder Twitpic, mit der Überschrift: ‚Kundenabzocke bei der Sparkasse Dödelsberg‘.“
Wenn dann der Kundendialog immer noch verweigert wird, ist das wie ein Sechser im Lotto. Dann kann man den Anbieter zur Schlachtbank führen: „Ich dachte, das hier ist eine Social-Media-Seite für menschlichen Kundendialog! Ich habe ganz höflich eine individuelle Frage gestellt und möchte nicht mit vorgefertigten Satzbausteinen aus der Rechtsabteilung abgespeist werden, sondern eine individuelle Antwort erhalten. Alles andere wäre eine Frechheit. Ich bitte deshalb nochmals um Erklärung, warum ich für diese Standardtransaktion 17 Euro zahlen soll.“
Noch schöner ist es, wenn die liebwertesten Bank-Gichtlinge den Eintrag löschen, um in die nächste Runde des Partisanen-Kampfes einzutreten: „Denn als findiger Guerilla-Kunde hatten Sie von Ihrem Facebook-Posting natürlich einen Screenshot gemacht. Und deshalb können Sie jetzt beweisen, dass die Sparkasse Dödelsberg ein Gegner der verfassungsmäßig verbrieften Meinungsfreiheit ist.“
Das geht so lange weiter, bis das Kundenanliegen in Erfüllung geht – da können die Callcenter-Lobbyisten noch so sehr vom vergangenen Ruhm schwärmen, wie sie wollen.
Dieser Artikel erschien zuerst auf The European.
Image (adapted) “Though Work“ by EcoVirtual (CC BY 2.0)
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