Die Netzpiloten feiern 15 Jahre Expeditionen in den Cyberspace und fragen prominente Wegbegleiter nach ihrem denkwürdigsten Erlebnis der digitalen Revolution. – Heute den Publizisten und Vertretungsprofessor an der FH Mainz, Dr. Tilman Baumgärtel.
Heute habe ich wieder so eine Email bekommen. Kein Inhalt. Kein Betreff. Kein Absender. Kein Adressat. Trotzdem habe ich sie bekommen, eine Mail ohne Inhalt und ohne Grund. Vor ein paar Monaten hätte ich sie gelöscht, ohne weiter darüber nachzudenken. Ich bekomme jeden Tag so viele Mails. Ich bin froh über jede, auf die ich nicht reagieren muss. Delete-Taste, Fall erledigt.
Seit Edward Snowden uns die Augen dafür geöffnet hat, was für ein Panoptikum das Internet ist, treibt mich so eine Email um. Bedeutet das, dass ich beobachtet werde? Habe ich allein durch den Empfang dieser Mail ein Backdoor zu meinem Computer geöffnet? Einen Trojaner installiert? Wird nun jeder Tastendruck, jede angeguckte Site in irgendwelchen kafkaesken Datenspeichern aufbewahrt, um in Zukunft irgendwann gegen mich verwendet zu werden? Warum gibt es solche Mails überhaupt?
Fast zeitgleich mit dieser Mail – und ich hoffe, ohne sonstigen Bezug ;) – erreicht mich die Bitte von Wolfgang Macht, für Netzpiloten einen Text über meinen denkwürdigsten Internet-Moment zu verfassen – natürlich ebenfalls via das diskreditierte Medium der Email .
Ich benutze das Internet seit fast zwanzig Jahren, und ich habe genug denkwürdige Internet-Momente erlebt, um damit ein Buch zu füllen. Ich war ein “Early Adopter”. Ich habe die Zeit erlebt, als es ein Distinktionsmerkmal war, überhaupt zu wissen, was das Internet ist. Ich habe mit Hilfe des Internets Freundschaften geschlossen und mir Feinde gemacht. Ich habe Informationen hochgeladen und heruntergeladen, weil ich dachte, dass das der Grund sei, warum das Internet existiert. Ich war bei Hackercamps auf abgelegenen Campingplätzen in Holland, bei subversiven Treffen in Moskau, zu Workshops in Montevideo, die ohne das Netz nie stattgefunden hätten. Ich habe gesehen, wie aus dem militärisch-technischen Protokoll ein Medium für die Kunst wurde. (Darüber habe ich unzählige Artikel und zwei Bücher geschrieben.) Und ich habe circa 1998 diese Email von mir selbst bekommen.
Von tilman@icf.de an tilman.baumgaertel@csi.com. Oder umgekehrt, ich bin mir nicht mehr sicher. Das waren damals auf jeden Fall meine beiden Emailadressen. Der Inhalt der Mail war relativ banal: “Tilman, haste Hunger oder Durst?” So erinnere ich es zumindest. Denn diese Mail ist lange verloren. Sie fiel – trotz meines Versuchs, alle wichtige Computerdateien aufzuheben – 2001 einem Festplattenabsturz zum Opfer – so wie alle die Dokumente, die irgendwann digitalisiert wurden oder schon digital waren, irgendwann einem fatalen Crash anheim fallen werden. Und um die es nicht schade sein wird, weil irgendwann das endlose Heute, das die digitalen Speichermedien eingeführt haben, zu einem Ende kommen muss, um wieder eine Zukunft möglich zu machen.
Heute kann ich bei Wikipedia nachlesen, dass diese Technik “Mail-Spoofing” heißt und wie es funktioniert. Damals gab es noch kein Wikipedia, und jemand wollte sich sein Mütchen kühlen. Ich habe nie herausgefunden, wer es war oder warum. Ich habe die Mail damals mit der kompletten Header-Information – die den Reiseweg der Email durch das Internet protokolliert – an verschiedene technisch beschlagene Freunde weiter geschickt. Aber keiner konnte sich erklären, von wem die Mail tatsächlich stammte.
Heute kommt mir diese Mail so vor, wie diese Briefe, die die Protagonisten in den großartigen “Back to the Future”-Filme aus der Zukunft und aus der Vergangenheit an sich selbst schicken, um sich davor zu bewahren, in der Gegenwart Fehler zu begehen.
Damals habe ich diese Botschaft nicht verstanden, es war im Grunde ja auch gar keine. Aber heute denke ich, dass diese Mail mich damals einerseits darum aufgeschreckt hat, weil sie – Brief aus der Vergangenheit – an das urdeutsche, tiefsitzenden E.T.A. Hoffmann-Grauen vor aus der Technik entstiegenen Doppelgängern appellierte, diese ganzen Olympias, Studenten von Prag, die Maria aus “Metropolis”, der andere Franz Kafka, den der Dichter eines Nachts neben sich im Bett liegen sah.
Andererseits war diese Mail ein Brief aus der Zukunft, die inzwischen die Gegenwart ist. In der jede meiner digitalen Informationen gespeichert werden kann und gespeichert wird, ohne dass die Macht, die das tut, sich mir gegenüber zu irgendeiner Rechenschaft verpflichtet fühlt. Und zu deren Methoden auch genau solche Tricks wie dieses Mail-Spoofing gehören. Ob ich Hunger oder Durst habe interessiert die Macht, die das tut, nicht. Aber zu ihrem Instrumentarium gehören Hunger und Durst schon. Wie diejenigen wissen, die von ihr genauer unter die Lupe genommen wurden – zu Recht oder weil ihr Name derselbe war wie der, der damals (unglücklicherweise falsch buchstabiert) auf einer Fahndungsliste stand.
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Schlagwörter: 15 Jahre, Jubiläum, Mail-Spoof, Tilman Baumgärtel