Neue Funktionen, neues Design, vielleicht sogar das Ende von @-Replies und Hashtags? Twitter will mit radikalen Änderungen Nutzer gewinnen. „Twitter weiß genau, was ich mag und für was ich mich interessiere. Offensichtlich durch das, was ich tweete, aber vor allem auch dadurch, wem ich folge„, schreibt Technologie-Analyst Ben Thompson. Doch bis zu einer hochgradig individualisierten Timeline braucht es langen Atem. Die Einstiegshürden sind hoch: Was heißt RT? Was ist ein @-Reply? Wem soll ich überhaupt folgen? Das scheint für Twitter zum Problem zu werden, denn das Nutzerwachstum schwächelt, viele Accounts verwaisen. Jetzt will Twitter dagegen steuern.
„Etwa 70 bis 80 Prozent der Menschen, die sich bei Twitter anmelden, springen im Laufe der Zeit wieder ab. Nur etwa 3 Prozent der Menschen, die sich jemals bei Twitter im deutschsprachigen Raum angemeldet haben, sind heute noch täglich als Schreiber aktiv„, schreibt Holger Schmidt auf seinem Blog Netzökonom.
Dieser Unfähigkeit, angemeldete User dauerhaft an den Dienst zu binden, hat auch mit der grundsätzlichen Struktur zu tun: Twitter ist per se eine asymmetrische Plattform. Man folgt jemandem, ohne dass diese Person zurück folgen muss. Jede Aktivität muss als erstes von den Nutzern ausgehen. Beim symmetrischen Facebook ist das anders: Eine Freundschaft wird von beiden Parteien bestätigt. Als Neuling kann man also auch warten, bis Freunde und Bekannte den „Freundschaftsanfrage“-Button klicken.
Twitter ist als Werkzeug umso besser, je individueller und auf die eigenen Interessen zugeschnitten die Timeline ist. Das ist ganz Sinne der Werbepartner, die so am zielgerichtesten ihre „Sponsored Tweets“ schalten können. Das Problem: Viele Neuanmelder kommen gar nicht bis zum dem Punkt, an dem der Mehrwert von Twitter den Aufwand, sich den eigenen Stream zusammenzustellen, rechtfertigt.
In einer Umfrage hat die Deutsche Bank versucht, 270 Twitter-Nutzer und solche, die den Dienst wieder aufgegeben haben, zu verstehen. Das Ergebnis: Vielen ist der Dienst zu kompliziert, relevante Themen zu schwierig zu finden.
Doch es ist nicht so, als ob Twitter seinem Verderben zusehen würde – im Gegenteil. Das Unternehmen aus San Francisco ist hochaktiv und bringt immer wieder neue Features: Antworten auf Tweets werden schon seit einigen Monaten mit der Originalnachricht mit einem blauen Strich verbunden, ein „Entdecken“-Tab soll es leichter machen, andere Accounts zu finden. Im Februar wurde bekannt, dass Twitter an einem Redesign der Profilseiten arbeitet, das stark an Facebook erinnert. Fotos und Videos können mittlerweile direkt in den Stream eingebunden werden und müssen nicht mehr über einen Klick auf einen Link geöffnet werden. Ende März wurde bekannt, dass User bis zu zehn Fotos in einem Tweet hochladen und Leute darauf taggen können – beides ohne, dass die 140 Zeichen in Anspruch genommen werden. Jetzt gibt es Gerüchte, dass Twitter sogar erwägt, die @-Replies bei Antworten auf Tweets zu entfernen. Buzzfeed wurde dazu ein Screenshot einer Android Alpha Testgruppe zugespielt, in deren App genau diese @-Replies fehlen.
Das Ziel: Die Nachrichten sollen besser sortiert werden, neue Nutzer leichter an die Plattform herangeführt werden. Und zwar dadurch, dass man Twitter dem anpasst, was Nutzer schon kennen: Facebook. Der Techblog Readwrite wirft Twitter vor, mit den Neuerungen der „Fear of Missing Out“ zu unterliegen, also der Angst etwas zu verpassen. In einem anderen Beitrag bezeichnet ReadWrite Twitter sogar als Copycat von Facebook, ein Begriff der in Deutschland vor allem im Zusammenhang mit StudiVZ als Nachmacher-Plattform von Facebook verwendet wird. Aber nicht vergessen: Auch Facebook hat Dinge von Twitter übernommen und zwar genau diese @-Replies und Hashtags, die Twitter angeblich abschaffen will.
Gibt es auch gute Nachrichten? Auch wenn das Nutzerwachstum langsamer wird, die Monetarisierung von Twitter nimmt Fahrt auf. Im vierten Quartal 2013 konnte das Unternehmen im Vergleich zum Vorjahresquartal die Einnahmen verdoppeln: 242,6 Millionen US-Dollar flossen zwischen Oktober und Dezember in die Kassen. Im gesamten Jahr betrug der Umsatz 665 Millionen US-Dollar. Für 2014 erwartet Twitter eine Verdopplung des Umsatzes – die wird es aber nur geben, wenn weiterhin neue Nutzer den Dienst verwenden. Allerdings macht Twitter weiterhin keinen Gewinn: Im vierten Quartal 2013 betrug der Verlust 511 US-Dollar. Der Aktienkurs liegt dieser Tage im Bereich des Ausgabekurses von knapp 45 US-Dollar. Zum Vergleich: Facebook hatte im vierten Quartal 2013 einen Gewinn von 528 Millionen Dollar, der Umsatz betrug 2,6 Milliarden US-Dollar.
Viele Reaktionen auf die Veränderungen bei Twitter sind skeptisch – gerade bei aktiven Twitter-Nutzern. Doch wenn die Aktiengesellschaft Twitter aus der Verlustzone kommen will, müssen die Werbeeinnahmen immens gesteigert werden. Und das kann nur über die Masse von Usern passieren: Neuanmeldungen oder reaktivierte Accounts. Wenn also Nutzer angeben, Twitter sei ihnen zu kompliziert oder zu unübersichtlich, ist es nachvollziehbar, dass Twitter an diesen Stellschrauben dreht. Die entscheidende Frage: Verwäscht Twitter mit den Veränderungen seine Einzigartigkeit oder macht Twitter nur das, was (neue) Nutzer wollen?
Image (adapted) „Twitter“ by petesimon (CC BY 2.0)
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Schlagwörter: Design, facebook, Funktionen, Social Media, Twitter
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