In den USA entwickelt sich ein neuer Volkssport, der hierzulande Datenschützer auf die Barrikaden bringen würde. Die Amerikaner sind uns immer ein Stück voraus.
Als bei uns noch das Sonnenstudio um Anerkennung rang, war in Amerika der Aerobic Boom fast vorbei. In den USA gab es schon Content Management Systeme, als hier die ersten Geeks ihre Websites noch in Texteditoren zusammenbastelten. Die ersten Beinbrüche deutscher Inlinefahrer waren zeitgleich mit dem Revival des Skateboards… Und nun fürchten sich einige vor dem Bundestrojaner und den Behörden, die uns mit Kameras auf öffentlichen Plätzen und online verfolgen könnten, um Profile zu erstellen.
Dass wir für diese Profile die Kreditkartenunternehmen bereits fürstlich bezahlen, scheint dabei nicht so ganz tragisch. Und auch hier sind uns die Amerikaner schon einen Schritt voraus. Web 3.0 steht vor der Tür. Nicht mehr kommentieren, selber machen ist das Zauberwort. Einfach das ganze Leben online dokumentieren. Anstatt – wie die empfindlichen Deutschen alle Daten zu anonymisieren – überschwemmen sie das Internet mit den intimsten Details über ihr Leben.
Wenn der eigene Puls auch im Web pocht
Mit BrightKite lokalisieren sie alle Aufenthaltsorte per GPS über den ganzen Tag. Mit Basecamp planen sie ihr Zusammenleben und Parties, mit MyMileMarker kann man jede Meile des Autogebrauchs dokumentieren, über last.fm den Musikkonsum und mit BedPosted veröffentlicht Mann oder Frau wie es so letzte Nacht gewesen ist, wie lange und wie gut und mit wem überhaupt. Wer braucht schon Datenschutz?
Ist doch Web 3.0! In den USA untergräbt man das Interesse der Behörden mit einer nicht enden wollenden Flut an Daten, die den ganzen Tag individuell und minutiös abbilden. Bei Web 2.0 ging es darum, die Hoheit über Inhalte zu erhalten und selber in Blogs oder über Twitter das Weltgeschehen zu beschreiben und die Vision zu haben, es ein Stück weit selbst zu gestalten. Und wenn man es nur kommentiert. Die neuen Webbies befassen sich in narzisstischer Selbstbespiegelung mit dem Zusammenfassen und analysieren ihrer Daten. Charts und Diagramme.
Der Mensch wird zu einer organisierten Entwicklung in Zeit und Raum, die nirgendwo besser Wirklichkeit erhält als in Tabellen und deren grafischer Umsetzung. Charts und Diagramme. Offenbar hat sich ihre Umwelt soweit in ihr Selbstverständnis gebohrt, dass sie sich selbst nur noch mit den Werkzeugen des beruflichen Alltags definieren können. Der Mensch erfasst sich selbst als statistische Kreatur. Homo statisticus.
Das Selbst wird digitalisiert
In San Francisco, wo sonst, gibt es schon einen Verein namens Quantified Self, bei dem sich Gleichgesinnte allmonatlich treffen und die neuesten und besten Tracking- und Analysetools besprechen. Gary Wolf, einer der Gründer des Vereins und Autor des Magazins Wired hat so seine eigenen Vorlieben. Er kümmert sich um das akribische Aufzeichnen seiner Körpertätigkeiten im Netz. Blutdruckmessen, täglich mehrmals. Das gibt natürlich eine Menge Daten. Und Charts und Diagramme. Das Self-Tracking ist natürlich schon ein bisschen was für diejenigen, die ganz vorne in der technisch hippen Welt mitspielen wollen. Es geht um Avantgarde um jeden Preis. Aber es geht auch um Praktisches. Zum Beispiel bei Mon.thly.info , dem Tracker für die Frau, der zur rechten Zeit eine E-Mail oder SMS los sendet, um die moderne Frau an das Mitnehmen von Tampons zu erinnern.
Ursachenforschung
Die Frage nach dem Warum stellt sich ja nicht, da es sich um die modernsten Errungenschaften eines ganz neuen Mediums geht. Es geht auch nicht darum, wirklich zu wissen, wie viele Birnen man am 12. Juli gegessen hat. Es geht einfach um die Unsterblichkeit der Daten. Ein Stück des Alltags lebt weiter. Die Beziehung ist dahin, aber man kann jederzeit sehen, dass man am 25. März miteinander glücklich war und Thunfischpizza aß. Das ist ein radikales Weiterführen des Lifebloggings, das sich zur Aufgabe macht, jede Kleinigkeit aufzuschreiben.
Manche machen das mit Twitter in 160 Zeichen, andere mit großem Trara auf dem WordPress-Blog in epischer Breite und Länge. Der Tenor ist die Unsterblichkeit.Und es ist auch ein bisschen eine Selbstbeelterung. Denn viele der kaum Dreißigjährigen sind aufgewachsen mit einer Flut an Fotos und Videos ihrer eigenen Kindheit. Jeder Event wurde aufgezeichnet, ganze Arsenale an VHS- Kassetten liegen noch in deutschen Kellern und eben auch in amerikanischen. Da ist Self-Tracking nichts anderes als das Weiterführen dieses medialen Tagebuchs mit den Mitteln des dritten Jahrtausends.
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Schlagwörter: lifestreaming, self-tracking
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