Langer, hintergründiger Recherche-Journalismus kann auch in Zeiten des kollektiven ADS erfolgreich sein. „Serial“ entwickelt sich zum globalen Phänomen und trotzt dem Hype ums Binge-Prinzip. // von Leonard Novy
Der Herbst gilt allen Umbrüchen in den Seh- und Sendegewohnheiten zum Trotz in den USA als Hochzeit der TV-Serie. Mit Spannung erwarten Senderverantwortliche, Werbekunden und Zuschauer die Ausstrahlung neuer oder wieder aufgewärmter Formate, spekulieren darüber, welche Sendungen als erstes abgesetzt werden oder sich zum Publikumsliebling entwickeln. 2014 gilt, wie schon 2013, als eher durchschnittlich. Solides Handwerkzeug, nichts Spektakuläres. Kaum zu glauben nach all dem Hype, aber auch Breaking Bad oder Orange is the New Black entstehen nicht am Fließband.
Die große Ausnahme und der Renner der Saison läuft außer Konkurrenz: nicht bei den „Big Four“-Networks, nicht über Kabel und nicht auf Amazon oder Netflix. Sondern als Podcast. Früher hätte man gesagt: Radio. Eine Sendung, die das Format im Namen trägt. Serial – hat sich seit der Premiere Anfang Oktober zum globalen Phänomen entwickelt. Knapp anderthalb Millionen Abrufe wöchentlich, Tendenz steigend, machen Serial zum erfolgreichsten Podcast in der englischsprachigen Welt. Auch in Deutschland rangiert die Sendung unter den Top Ten. Serial liefert solides Handwerkszeug und ist dabei ziemlich spektakulär. Die Idee der Sendung, ein Spin-Off des vom Chicago Public Radio produzierten Reportage-Klassikers „This American Life“, ist schnell zusammengefasst: Eine reale Geschichte, erzählt über eine ganze Saison.
Solides Handwerkszeug, ziemlich spektakulär
Die erste, von Sarah Koenig präsentierte Staffel untersucht einen Mordfall aus Baltimore, der letztes Jahr an die ehemalige Reporterin der Baltimore Sun herangetragen wurde. Der zur Tatzeit 17-jährige Adnan Syed wurde 1999 von einer Jury schuldig gesprochen, seine Ex-Freundin Hae Min Lee kaltblütig ermordet zu haben. Adnan, ein intelligenter, allseits beliebter Teenager, der den Spagat zwischen muslimischer Tradition und den Verführungen des Lebens an der Woodlawn High School, zwischen Moschee und Marijuana, scheinbar mühelos hinbekam, beteuerte stets seine Unschuld. Und 15 Jahre nach seiner Verurteilung mehren sich die Zweifel: Ging bei den Ermittlungen alles mit rechten Dingen zu? Wurden Spuren übersehen? Welches Motiv sollte Syed, der auch nach seiner Trennung ein gutes Verhältnis zur Ermordeten hatte, gehabt haben? Hat die inzwischen verstorbene Strafverteidigerin ihren Job gut gemacht? Was, wenn nicht die Wahrheit, könnte Jay, einen Schulfreund des Verurteilten, dazu bewegt haben, Syed zu belasten?
Koenig, für die sich der Fall als eine Art „Shakespear’sches mash-up“ präsentierte („Young lovers from different worlds thwarting their families, secret assignations, jealousy, suspicion and honor besmirched„), fing an zu recherchieren. Herausgekommen ist ein intelligentes, ungemein spannendes „Whodunit“. Woche für Woche nimmt Koenig, die die Sendung aus der Ich-Perspektive präsentiert, ihre Hörer mit auf ihre Suche nach der Wahrheit, interviewt Zeugen und Experten, wertet Beweise aus oder analysiert Dokumente.
Die erste Episode „The Alibi“ von „Serial“ zum anhören:
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Serial kommt ohne viel Multimedia-Blingbling aus und präsentiert sich auch nicht als Detektiv-Spiel zum Mitmachen. Es ist kein Aktenzeichen XY… ungelöst ohne Laiendarsteller (und ohne Bild). Im Vordergrund steht die Geschichte und ihre Erzählerin. „We want to give you the same experience you get from a great HBO or Netflix series, where you get caught up with the characters and the thing unfolds week after week, but with a true story, and no pictures. Like House of Cards, but you can enjoy it while you’re driving“, erklärte Ira Glass von „This American Life“, als er die erste Episode von Serial präsentierte.
Klassisch ist das Format auch in dem Sinne, dass es auf serielles Erzählen setzt und neue Folgen im Wochenrhythmus jeweils am Donnerstag ins Netz stellt, statt wie Netflix oder Amazon komplette Staffel gleichzeitig zu veröffentlichen (wodurch das „Binge Watching“ von Serien wie House of Cards endgültig zu einer allseits sozial akzeptierten Freizeitbeschäftigung wurde). Während die Ende September komplett en bloc veröffentlichte Amazon-Serie Transparent zwar hochgelobt wurde, aber heute schon wieder beinahe vergessen ist, entstand um Serial so eine sich Woche für Woche steigernde Begeisterung, die heute einer „kulturellen Obsession“ gleicht und längst auch auf anderen Plattformen wie reddit stattfindet.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf Carta.
Teaser & Image by Mashable
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Schlagwörter: Binge-Prinzip, Hype, journalismus, Medienwandel, Podcast, Recherche, Sarah Koenig, Serial