Der internationale Terrorismus macht sich Social Media zunutze und baut ähnlich wie die Filmindustrie auf „Markenbotschafter“ in Twitter & Co. // von Alfred Hermida
An einem bedeckten Nachmittag im Mai 2013 wurde Lee Rigby, Soldat außer Dienst, in der Nähe seiner Kaserne in Woolwich im Südosten Londons ermordet. Die Mörder Rigbys waren zwei junge Briten nigerianischer Abstammung, Michael Adebolajo und Michael Adebowale. Zu der Zeit war noch nicht bekannt, dass Adebowale sechs Monate zuvor auf Facebook den Wunsch geäußert hatte, einen Soldaten zu töten.
Die Verfasser des offiziellen Tötungsberichts äußerten sich kritisch gegenüber Facebook, da hier die Gefahr nicht erkannt worden war. Sie wandten ein, es gäbe eine „erhebliche Wahrscheinlichkeit„, dass man den Angriff hätte verhindern können, wenn die Firma die entsprechenden Behörden informiert hätte. In der Folge wandte sich die Politik an diverse soziale Netzwerke und kritisierte, es würde nicht genug getan, um Extremisten aufzuhalten. Zudem warfen sie Facebook und anderen Netzwerken vor, diese würden Terroristen ein Auffangbecken bieten, außerdem würden sie ihrer sozialen Verantwortung nicht gerecht.
Dabei ist es zu simpel, die sozialen Netzwerke kollektiv als Sündenbock darzustellen, besonders wenn zugleich die Aufmerksamkeit von der mangelhaften Arbeit der Sicherheitsbehörden fortgelenkt wird – diese hatten Adebolajo bereits vorher unter Beobachtung. Extremisten haben seit je her Techniken benutzt, um ihre Botschaften zu verbreiten – von gedruckter Propaganda bis hin zu Sendungen über den Äther. Heutzutage hat das Smartphone die Zeitung ersetzt und die sozialen Medien repräsentieren ein vorgefertigtes Verteilernetzwerk.
Daher ist es kaum verwunderlich, dass gemäß manchen Beurteilungen bis zu 90 Prozent der Terroraktivität im Internet über die sozialen Netzwerke stattfindet. Schließlich geht es hier um Macht: die sozialen Netzwerke verlagern das Kräfteverhältnis von Regierungen, Polizei und bewaffneten Streitkräften zu Gunsten von eher lose organisierten Gruppen bestehend aus Aktivisten, Andersdenkenden und eben auch Extremisten.
Twitterguerillas
Die sozialen Medien gehören hierbei grundsätzlich zu den von den Guerillakämpfern bevozugten Mitteln, denn hier kann es eine kleine, bewegliche Kraft erfolgreich mit größeren und schwerfälligeren Einheiten aufnehmen. Um zu durchschauen, wie man Extremismus im Internet bekämpfen kann, muss zunächst verstanden werden, wie die sozialen Medien funktionieren.
Die Nutzung der sozialen Netzwerke ist meist kostenlos und für jeden zugänglich, der einen Internetanschluss besitzt. Außerdem können Nachrichten weltweit versandt werden und sind somit für jeden einsehbar und erreichbar. Statt sich auf das Pressewesen oder andere Mittelsleute stützen zu müssen, erreichen extremistische Gruppen die Menschen direkt und beschneiden die Nachrichten dementsprechend. Der Islamische Staat (IS) gibt gezielt Nachrichten heraus, die dazu ausgelegt sind, Terror im westlichen Leserkreis zu verbreiten, während sie mit Tweets Gefolgsleute aus der muslimischen Welt rekrutieren.
Seit die sozialen Medien als Netzwerke operieren, ist es viel einfacher geworden, beispielsweise Hassbotschaften von einem Nutzer zum Nächsten zu verbreiten, denn jeder Gefolgsmann wird selbst zum Sender. Hierbei ist es egal, ob man 100, 1.000 oder 10.000 Leute erreichen möchte, denn die Kostenbilanz bleibt in etwa gleich.
Dieses weit verzweigte und dezentralisierte Modell begünstigt die Guerillataktiken. Hier können Gruppen und Einzelne unabhängig arbeiten, und dennoch lose miteinander verbunden sein. Im Gegensatz dazu neigen Nachrichten von Institutionen dazu, auf einer Basis der Anordnungen und Kontrolle zu agieren. Hier sind es auch die verschiedenen Stufen der Bürokratie, die eine rasche Antwort der Nutzer erschweren.
Markenbotschafter oder Terrorist?
Es ist viel schwieriger, einen von Extremistengruppen geführten Propagandakanal abzuschalten, wenn niemand und gleichzeitig jeder dafür verantwortlich ist. Sicherheit generiert sich dadurch, dass im Verborgenen gearbeitet wird. Inoffizielle Twitter- oder Facebook-Accounts, die von Sympathisanten betrieben werden, sind schwierig zu ermitteln, denn sie können leicht in der Menge der Nachrichten auf den Netzwerken untergehen. Eine Studie vom Anfang diesen Jahres konnte 27.000 Twitterkonten ausmachen, die sich positiv über IS äußerten, obwohl keiner von ihnen von einem offiziellen Mitglied betrieben wurde. Stattdessen wird hierfür ein Fachbegriff aus der Geschäftswelt benutzt, man nennt sie „Markenbotschafter“. Tatsächlich benutzen Extremisten die selben Taktiken, um Hassbotschaften zu verbreiten, wie sie in Hollywood benutzt werden, um bei Fans Begeisterung für einen neuen Kinofilm hervozurufen.
Twitter ermutigt uns, im Hier und Jetzt zu leben, und eher zu reagieren als zu reflektieren. Bei Eilmeldungen findet sich auf Twitter ein Durcheinander von Fakten, Spekulationen, Gerüchten und Gefühlsausbrüchen. Die Unsicherheit, die auf Ereignisse wie der Schießerei von Ottawa folgte, bietet nahrhaften Boden für eine Athmosphäre der Angst.
Das Echtzeit-Erlebnis der sozialen Netzwerke bietet Terrorgruppen die Möglichkeit der taktischen Beeinflussung. Sie versuchen, die Tagesordnung der Nachrichten zu beeinflussen, indem sie unmittelbar Berichte und Fotos von Angriffsszenen aussenden, noch bevor die Medien oder die Behörden ermitteln konnten, was genau passiert ist.
Das Gemeingut
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ein Großteil dieser Umtriebigkeit in der Öffentlichkeit stattfindet, und zwar auf Netzwerken, die von Sicherheitsbehörden mit einfachen technischen Mitteln überwachbar wären. Firmenstatistiken zeigen, dass viele Teilnehmer der sozialen Netzwerke leichtfertig eine Fülle an Informationen preisgeben, beispielsweise über ihr handeln, ihre Vorhaben und Überzeugungen. Besonders geschickte Unternehmen haben sich darauf spezialisiert, die Mitglieder in Echtzeit zu beobachten und rasch auf Verbraucherreaktionen per sozialer Netzwerke zu reagieren. Für den Kampf gegen den Terror könnte sich dies eine echte Lehrstunde herausstellen.
Im Vergleich dazu sind traditionelle, hierarchische Einrichtungen eher schwerfällige Gebilde, die zu schlecht ausgerüstet sind, um den Kampf auf dem Schlachtfeld der Popaganda aufnehmen zu können. Hier sind die Methoden der wendigeren Guerillakämpfer im Vorteil.
Die gleichen Eigenschaften, die den Menschen in den sozialen Netzwerken helfen, sich zu versammeln und beispielsweise gegen Einkommensungerechtigkeit oder zum Sturz eines Diktators beizutragen, können jedoch auch von Übel sein.
Der Kern der Debatte beinhaltet die Tatsache, dass die sozialen Netzwerke ein umkämpfter Raum sind, in dem die Macht der Behörden und Eliten eine Herausforderung für die kleinen Randgruppen darstellen. Diese sind im Begriff, ausgeschaltet zu werden – das geschieht hier gleichermaßen im Guten wie im Schlechten.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf The Conversation und steht unter CC BY-ND 4.0. Übersetzt wurde der Text von Anne Jerratsch.
Teaser & Image by Thomas Ulrich (CC0)
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Schlagwörter: kommunikation, Social Media, Terrorismus, Twitter, ueberwachung