Hoffnung oder Unheil? Wenn es ums Informieren im Internet geht, fallen die Urteile stets unterschiedlich aus. Aber einfach nur schimpfen, wie „FAZ“-Mann Mathias Müller von Blumencron, ist auf jeden Fall falsch. Mathias Müller von Blumencron, der „FAZ“-Mann für das digitale Geschäft, sorgt sich in einem Leitartikel seiner Zeitung um die Wahrheit. Eine Wahrheit habe sich in den vergangenen Jahrtausenden wohl durchgesetzt. „Wirklich ist, wo man gerade steht„, so die Blumencron-Erkenntnis. Aber dann kam die digitale Revolution und erschütterte diesen Geist des Pragmatismus. Die unendliche Erreichbarkeit von Wissen mündet nicht automatisch in Wissen – eine simple Wahrheit, die schon beim Besuch einer analogen Bibliothek den Gelehrten klar wurde.
Das Internet als Empörungsmaschine
Das Internet hat aber nach Meinung des FAZlers noch viel mehr bewirkt. Es mutierte in den vergangenen Jahren zu einer gewaltigen Empörungsmaschine, einer Gerüchteschleuder, zu einem Propagandavehikel für jede noch so obskure Theorie: „Die eingebildete Wahrheit verdrängt die Fakten, eine scheinbare Welt die Realität.„
Aus einem Medium der Information werde ein Vehikel der Desinformation. Wer suche, der finde für jede noch so abwegige Ansicht eine Theorie. „Es gibt Zehntausende, die glauben, dass die Mondlandung inszeniert worden sei. Es gibt Zehntausende, die glauben, dass die klaffenden Einschlaglöcher im World Trade Center zu schmal für die Flugzeuge gewesen seien, die sie aufgerissen haben. Und es gibt Zehntausende, die glauben, dass die Täter von Paris nicht radikale Islamisten gewesen seien, sondern westliche Islam-Hasser„, schreibt Blumencron. Dieser Glaube sei der Feind von nüchternen Fakten.
Facebook als unüberprüfbare Gerüchteküche
„Ausgerechnet in einer Zeit, in der es das Publikum besser wissen müsste, gewinnen allerorten Bewegungen der Unvernunft an Einfluss, die ohne ihre eigenen Informationskanäle im Netz kaum denkbar wären.„
Über Jahrhunderte sei es üblich gewesen, dass Informationen einen Absender hatten. Die griechische Agora, der Marktplatz, später die Zeitung, die Radiosender, das Fernsehen, die Website oder ein Blogger „waren“ eindeutig identifizierbare Orte der Information. Mit Facebook als Betriebssystem des Internets sei das nun nicht mehr so, glaubt Blumencron.
Ein Drittel der Amerikaner informiere sich primär über soziale Medien und auch Deutschland würde sich dorthin entwickeln. „Infofetzen fliegen heute vor den Netznutzern entlang wie Herbstlaub im Sturm. Woher sie eigentlich kommen, von welchem Baum sie stammen, ob sie authentisch oder manipuliert sind, ob sie sauber recherchiert oder mehr oder weniger geschickte Propaganda sind, lässt sich immer weniger feststellen. Und es scheint auch eine immer geringere Rolle zu spielen.“ Wichtiger sei der Empfehlende oder der virtuelle Kurator – also der Facebook-Freund, dieser flüchtige Geselle.
Die Algorithmen der Social Web-Plattformen würden das noch über die Filterbubble-Effekte befördern. Man lande mit mathematischen Formeln im Schwarm der Weltverschwörer. Das Internet schütze nicht die Freiheit und gebäre auch nicht die Wahrheit. Aber welche Wahrheit ist nicht konstruierte Realität – egal, ob sie von Profijournalisten, Experten oder Laien kommuniziert wird? Was der besorgte „FAZ“-Mitarbeiter geschrieben hat, klingt wie die vornehme Variante der Klagerufe von Verlegern, die das Mitmach-Web als Toilettenwand des 21. Jahrhunderts deklassieren wollten.
Nach Einschätzung des Soziologen Dirk Baecker ist Blumencron nur darum bemüht, seine eigenen Thesen zu beweisen. Er schleudere Gerüchte (über das Internet), produziere Desinformation (über das Internet) und beweise, dass noch lange nicht jedes Wissen (etwa die Artikel-Weisheiten des FAZlers) der Wahrheit entsprächen. „Alle Formen der ebenso produktiven wie kritischen Vernetzung unter Wissenschaftlern, Familienmitgliedern, Politkern und politisch Bewegten, Gläubigen und Predigern, Käufern und Verkäufern (Endkonsumenten wie Geschäftsleuten) entgehen dem geschätzten Autor„, so Baecker.
Die nicht überprüfbaren Gerüchte des analogen Zeitalters
Das Problem sind nach Meinung des Soziopod-Bloggers Partrick Breitenbach nicht die zirkulierenden Gerüchte und Verschwörungstheorien, denn die gab es vermutlich schon seit Beginn der menschlichen Aufzeichnungen:
„Man denke nur an die berühmten ‚Protokolle der Weisen von Zion‘, die gerade durch eine monolithische Medienkultur der gedruckten Wahrheit für eine breite Akzeptanz einer kruden Weltverschwörungstheorie damals bis heute wirkte. Ein Buch hatte entsprechendes Gewicht. Das gedruckte Wort galt zunächst als unantastbar, genoss als Medium hohe Reputation und war natürlich relativ schwer und sehr spät korrigierbar. Die Herausforderungen heute liegen ganz woanders. Gibt es so etwas wie die einzige objektive Wahrheit überhaupt? Kann die Stimme eines einzelnen Experten oder Journalisten die komplexe Wirklichkeit, die wir in Summe als solche wahrnehmen, überhaupt abbilden? Genau diese Erwartungen haben die meisten Leser an ‚ihr Medium‘. Es gibt einen Paradigmenwechsel, den die neue Technologie der Kommunikationsvernetzung angestoßen hat, nämlich die Frage nach der einzig wahren Wahrheit selbst.„
Genauso relevant sei die Frage, wie viel Desinformation in der Zeit vor dem Internet unerkannt durchgeschlüpft ist. Schließlich würden sich besonders die aktuellen Verschwörungstheorien auf „alte“ Buch-Quellen berufen.
„Die Kunstfertigkeit der gezielten Wirklichkeitsverformung existiert spätestens seit Edward Bernays Werk ‚Propaganda‚. Auch sie wurde Schwarz auf Weiß im Jahre 1928 gedruckt. Darin beschreibt Bernays als erster namhafter PR-Experte ausgiebig die aus seiner Sicht notwendigen Machenschaften von findigen Public Relation Experten zur aktiven Steuerung einer Demokratie im Sinne von damals herrschenden Eliten in Politik und Wirtschaft.“ Und dabei spielte immer auch die Kriegspropaganda eine große Rolle.
„Wenn wir uns das bewusst machen, so sollten wir uns täglich aufs Neue die Frage stellen, ob das Internet, als neue Informationsinfrastruktur, tatsächlich ein Fluch der freien offenen Gesellschaft ist oder vielmehr zugleich auch die Chance beinhaltet, durch ein permanentes Aushandeln, Abgleichen und Korrigieren den Nährboden für totalitäre Machenschaften einiger weniger Mächtigen zu entziehen. Richtig ist jedoch, dass das Tempo und die Dynamik zugenommen haben, in der sich offensichtlich bereits eindeutig falsifizierte Informationen verbreiten. Schließlich besteht auch die traurige Einsicht, dass Menschen schon immer nur das gelesen haben, was sie im Grunde ihres Herzens und aufgrund ihrer Sozialisation am Ende lesen wollten„, erläutert Breitenbach gegenüber The European. Oder in den Worten von Albert Einstein: „Es ist einfacher ein Atom zu spalten als ein Vorurteil.„
Journalismus im permanenten Korrektur-Modus
Wir sollten uns eher an den neuen Zustand einer unsicheren Unwirklichkeit gewöhnen und offen sein für einen neuen Journalismus, der nie vollständig abgeschlossen sein wird und stärker denn je auf die Wirkmächtigkeit der Korrektur setzen muss. „Das gedruckte Wort ließ damals weder eine nachträgliche Korrektur noch den Raum für zusätzlich hinzugefügten Kontext zu. Das Internet hingegen hat technologisch jede Menge Raum für genau das. Gerade ältere Artikel müssen kontinuierlich revidiert werden, denn sie sind die Quellen für morgen. Das Korrektiv ist zum Teil der Leser selbst, sie müssen nur einerseits mit glaubwürdigen und vertrauensvollen Quellen und Links versorgt werden und andererseits sicher sein, dass veraltete Artikel immer wieder auch auf Richtigkeit überprüft werden, um gerade den Diskurs im Ganzen entsprechend auszubalancieren“, fordert Breitenbach.
Die konspirativen Facebook-Freunde seien nicht die Ursache für die zirkulierenden Gerüchte und Desinformationen: „Das Vertrauen bröckelt deshalb, weil unterbezahlte und unter Zeitdruck handelnde Profi-Journalisten zunehmend unter den ökonomischen Druck geraten und gezwungen werden, Nachrichten aus Quellen unreflektiert abzuschreiben, um mit dem erhöhten Takt der täglichen ‚News‘ Schritt halten zu können. Zeit für Gründlichkeit ist somit zum wichtigsten Vertrauensgut geworden“, sagt Breitenbach.
Überschätzte Medienkompetenz
Auch der Internet-Berater Christoph Kappes ist umzingelt von Bekannten, die den größten Unsinn und an Verschwörungstheorien glauben. Blumencron verwechsele Ursache und Wirkung, sagt er: „Das Internet ist als Medium oder Container eben der Turbo der Kritik. Kritik wird Standard-Modus und stellt so alles in Frage, was bisher unhinterfragt festzustehen schien. Zusätzlich sind die Barrieren gesunken, so dass das Feld der Anbieter unübersichtlich geworden ist. An Google liegt es jedenfalls nicht, es spiegelt nur die Suchanfragen. Wir haben eben anders als früher nicht nur seriöse Medien, sondern zusätzlich noch Zugang zu den abseitigsten Quellen dieser Welt. Das und der Kritikmodus kann uns den Boden unter den Füßen wegziehen, unser konzeptionelles Fundament.„
Aus seiner Sicht sind die Inkompetenz-Phänomene ein Zeichen dafür, dass wir die Medienkompetenz der Menschen überschätzt haben. Für Kappes ist klar, dass es auf diesen sozialen Bedarf auch eine soziale Reaktion geben wird, nämlich die Entwicklung von technischen Lösungen zur Messung und Filterung der Qualitätssignale. „Vielleicht gibt es Reviews, Sterne, neue Aggregatoren, vielleicht stellt Facebook einfach nur seinen Algorithmus um – ich habe da keine Sorge. Klar ist aber, dass die Ansprüche an alle steigen und viele Menschen ihrer eigenen ‚Filteraufgabe‘ nicht gewachsen sind„, resümiert Kappes.
Das gilt wohl auch für die Wahrnehmungen des liebwertesten Gichtlings der „FAZ“. Vielleicht sollte er der digitalen Arbeitsweise des „SZ“-Kollegen Dirk von Gehlen folgen und eine neue Version seines Traktats erstellen.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf The European.
Image (adapted) „EU Privacy Directive / Changes to UK Internet Cookie Privacy Law“ by Surian Soosay (CC BY 2.0)
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Schlagwörter: FAZ, Information, Internet, internetkritik, journalismus, Medienkompetenz, Social Media
2 comments
Als ich Blumencrons aktuellen Beitrag las, dachte ich nur „Binsenweisheiten aus Neuland.“ Denn die Entdeckung, dass sich im www auch Verschwörungsunsinn schnell verbreitet, ist ja nun wirklich keine neue und erschreckende Erkenntnis und auch kein netzimmanentes Problem. Aktuell schwirrt doch dieses ihm sicher bekannte Buch von Udo Ulfkotte durch viele Hände. Und dafür ist sicher nicht das Netz verantwortlich.
Für mich gibt es derzeit nur eine bedenkliche Beobachtung, die hier Christoph Kappes benennt, jedoch meines Gefühls nach zu optimistisch in der Zukunft gelöst sieht: das Netz als enormer Verstärker einer Debattenkultur, die ein Korrektiv nicht hat: Empathie.
Empathie lässt uns im realen Leben erkennen, wann Häme zu viel wird, wann ein Witz nicht mehr witzig ist und wann wir denjenigen, den wir eben noch lächerlich machten, wieder schützen müssen und in die Gemeinschaft zurückholen. All dies findet im Netz derzeit nicht statt. Im Gegenteil: wir schlagen uns da zunehmend tot – bislang zum Glück nur mit Argumenten. Mehr zu meinem Gedanken schrieb ich unter: https://thomasbrasch.wordpress.com/2014/12/18/jetzt-kommt-mal-wieder-runter-und-zeigt-dass-das-netz-mehr-kann-als-hame-verbreiten/