Der Mord an Boris Nemzow und drei weitere Tode

Die Ermordung von Boris Nemzow ist symptomatisch für das von Putin zu verantwortende, politische Klima in Russland. Der schockierende Mord an dem russischen Oppositionellen Boris Nemzow, wortwörtlich in Sichtweite des Kremls, kennzeichnet eine neue Ära in der russischen Politik, und auch die Beobachtung der Russen von außen. Das alles wird wahrscheinlich nicht besonders schön.

Wer hat Nemzow umgebracht, wer steckt dahinter? Zum gegenwärtigen Zeitpunkt habe ich absolut keine Ahnung. Die Regierung? Ich kann mir kaum vorstellen, dass Wladimir Putin den Befehl geben würde, Nemzow umbringen zu lassen. Nicht, weil der russische Präsident Pazifist ist, sondern deshalb, weil ich darin keinen wirklichen Vorteil erkennen kann.

Manche Leute haben schon eine Parallele zum Mord an Sergey Kirow gezogen, der mit einem Streich Stalins größte Rivalen beseitigte und ihm einen Vorwand dafür gab, die Elite zu säubern. Jedoch denke ich nicht, dass Putin eine Ausrede braucht, um seine Repressionen, welche das auch sein mögen, durchzuführen. Nemzow war sicherlich keine Bedrohung für ihn.

Nebenbei gesagt, für einen Anführer, dessen Legitimität sich in Teilen auf der Art gründete, wie er den ‚Bespredel‘ (dt. etwa: Schrankenlosigkeit) beendet hat, die offenkundige und brutale Gesetzlosigkeit der 1990er, ist es für Putin eher peinlich, dass das ganze so nah an seinem Machtsitz passiert ist. Wenn überhaupt, hat dieses Ereignis die Proteste vom Wochenende aufgeschreckt und sie in ein Erinnerungsereignis für Nemzow verwandelt.

Vielleicht haben die übereifrigen Sicherheitsbeamten etwas getan, von dem sie dachten, dass es ihrem Chef gefallen würde? Kann sein, aber es gibt auch für diese Annahme keinen wirklichen Grund. Vielleicht waren es Nationalisten oder eine Horde Verrückter, getrieben die vom neuen Geist der Fremdenfeindlichkeit und der Hexenjagd, die der Kreml angefacht hat? Das ist schon wahrscheinlicher. Die Oppositionellen könnten einen Märtyrer haben wollen. Oder, um die wirklichen Extreme des Spektrums der Durchgeknallten auszuloten, könnten genauso gut US-Agenten den Ärger angezettelt haben. Das glaube ich allerdings keine Sekunde lang.

Und dennoch – wir wissen es einfach nicht. Wir wissen praktisch nichts außer den Fakten, darum werden wir immer wieder dazu verführt, diese auf der Basis unserer Annahmen über Russland, Putin und die Welt zu interpretieren. Das ist nur menschlich und daher unvermeidbar, und außerdem ist es gefährlich. Es zeigt nämlich auch, dass hier ein Wendepunkt gekommen ist, der drei Dinge anzeigt, die nicht so sehr plötzliche Ereignisse, sondern mehr langwierige Prozesse gewesen sind.

1. Der Tod der Neutralität

Es wird immer schwieriger, keine der beiden Seiten einzunehmen. Wir haben das schon im Fall der Ukraine gesehen (ich wurde sogar bereits als Handlanger des Kremls getadelt, weil ich nicht den Begriff ‚Terroristen‘ benutzt habe, um die Rebellen zu beschreiben, und als Lockvogel des Westens, weil ich angemerkt habe, dass hier russische Truppen anwesend seien – all das wegen eines einzigen Artikels!), aber ich glaube, genau das passiert nun auch mit Russland.

Wenn man Putin nicht als mörderischen, mafiösen, faschistischen, tyrannischen Kleptokraten darstellt, der nur zum Spaß Leute tötet, wird man direkt zum Fürsprecher. Weigert man sich zu glauben, dass das Außenministerium Alexei Nawalny im Kreml nach oben bringen möchte, ist man bereits ein Werkzeug der westlichen ‚farbigen Revolution‘. Es tut mir aufrichtig Leid, aber die Untersuchungen sind nur zweitrangig im Vergleich zu den Behauptungen der Welt, die als Beobachter von außen genau zu ‚wissen‘ glaubt, was passiert ist.

2. Der Tod von Sachverhalten

Es scheint, als wäre heutzutage nichts Teil eines Plans, einer Strategie, einer Masche oder eines bestimmten Schachzuges. Der Vorfall rund um MH17 war eine ukrainisch gesteuerte Fehlinformation, um die Rebellen zu dämonisieren (was für ein himmelschreiender Unsinn). Nemzow muss von der Regierung umgebracht worden sein, denn er war rund um die Uhr unter Beobachtung (ziemlich fragwürdig: das würde bedeuten, es gäbe eine riesige Geheimoperation, was völlig unverhältnismäßig zu seiner derzeitigen Bedeutung gewesen wäre). In Wirklichkeit haben die Politiker und die Regierung sehr viel weniger Kontrolle über die Ereignisse, als sie selbst und wir vielleicht glauben.

Meine Arbeitshypothese ist, dass Nemzow von ein paar blutrünstigen Rebellen getötet worden ist, und nicht von Agenten der Regierung oder fanatischen Oppositionellen. Der Grund, wieso sie sich verpflichtet fühlten, loszugehen und eine regierungskritische Person niederzuschießen, die, offen gesagt, ihre besten Zeiten bereits hinter sich hat, ist höchstwahrscheinlich dem hochgiftigen politischen Klima geschuldet, das ein eindeutiges Ergebnis der Behörden des Kremls ist. In diesem Klima werden Leute wie Nemzow als russenfeindliche Gefolgsleute des Westens beschrieben, sie seien zudem Feinde des russischen Volkes, der Kultur, der Werte und der Interessen Russlands.

Um das ganze abzuschließen, ich hege den Verdacht, dass Putin schuldig ist, und zwar auf die gleiche Weise, wie Tabakkonzerne für die Schuld der Krebstoten verantwortlich gemacht werden, während diese über die Gefahren Bescheid wussten, oder wie ein Hassprediger es ist, wenn ein paar verwirrte Gefolgsleute ihre Gesinnung nehmen und diese in blutige Tatsachen umwandeln.

Daher muss ich nun unbedingt das dritte Opfer benennen:

3. Der Tod des Optimismus

Wie lindert ein Regime diese Art der fieberhaften Einstellungen? Und kann es das überhaupt? Ich glaube nicht, dass Putin entschlossen ist, den Dritten Weltkrieg anzufangen, oder einen neostalinistischen Terrorstaat aufzubauen, oder irgendwas von den Sachen zu tun, die die überspannten Kritiker behaupten. Aber ich vermute, dass Putin im Namen der Macht, die er behalten will (denn das ist sein größtes Ziel) und die Eigenständigkeit Russlands, die er immer wieder betont (das wäre sein zweitgrößtes Ziel), und unabhängig von der Opposition der Liberalen, der Ukraine, dem Westen oder wem auch sonst, sich einen Schritt zu weit entlang des dunklen und gefährlichen Weges gewagt hat. Von diesem Weg kann er nun nicht mehr abweichen, oder aber, und das ist vielleicht am Schlimmsten, er kann nicht aufhören, seinen Weg weiter zu verfolgen.

Der Artikel ist zuerst auf theconversation.com erschienen und unter CC BY-ND 4.0 lizensiert. Übersetzung von Anne Jerratsch.


Image (adapted) „Putin“ by klimkin (CC0 Public Domain)

forscht seit den späten 1980er Jahren zu russischer Geschichte und Sicherheitsfragen. Studiert hat er an der Cambridge University und der London School Of Economics. Heute ist er Professor für Internationale Beziehungen am Center for Global Affairs der Universität von New York. Bis 2008 leitete er das Institut für Geschichte der Keele University in Großbritannien. Galeotti schreibt regelmäßig für die Moscow News.


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