Netz-Diskurse ohne Imponier-Gehabe

Printmedien existieren heutzutage auch weiterhin neben dem Internet. Allerdings gibt es grundlegende Unterschiede zwischen Print und Online. Nicht zuletzt zeigt sich das in der Diskussionskultur beider Formate. Im Internet wird grundlegend anders diskutiert als im Print-Journalismus. Jetzt müssten das nur noch die Journalisten begreifen. Die Kolumnistin Renée Zucker versucht sich in einer biologistisch-evolutionstheoretischen Einordnung der Posting-Sucht:

Ein Blogger, der sich selbst als Pionier des Internets bezeichnet, beschreibt seine Hilflosigkeit angesichts des Lesens einer Wochenzeitschrift. Er hatte so lange kein bedrucktes Papier mehr in der Hand. Offenbar ein Mann mit robuster rundum-Gesundheit und selbstorganisierten Haaren, der seine Zeit weder in Arzt-Wartezimmern noch Frisörsalons vertut, schreibt die RBB-Hobby-Biologin Zucker. Gemeint ist Christoph Kappes, der in einem Blog-Beitrag seine Entwöhnung von gedruckten Medienprodukten thematisiert.

Auf der Suche nach Krankheitssymptomen im Netz

Kappes hat es schlicht verlernt, Print-Magazine zu lesen:

Und noch mehr: das Teilen (sharen) ist mir eine so selbstverständliche Handlung geworden, dass ich gar nicht weiß, warum ich Print lesen soll, kann ich doch diese wichtige Funktion damit gar nicht vornehmen. Warum soll ich lesen, was ich nicht teilen kann? Warum soll ich lesen, was ich nicht kopieren kann, was ich nicht kommentieren kann, was ich nicht als pdf auf meinem Server ablegen kann und so weiter?

Online sind die Möglichkeiten der Informationsverarbeitung und Kombinatorik mehr oder weniger unendlich im Vergleich zu linearen Printprodukten.

Für die RBB-Kolumnistin reicht das als Befund für ein neues Krankheitssymptom

„Ich kann nicht aushalten, wenn ich nicht meinen Senf dazugeben kann.“ Wobei sie Kappes als Autor weder benennt noch auf die Quelle verlinkt – könnte sonst als Schleimerei ausgelegt werden. Oder möchte die Autorin dem Blogger keine weiteren Likes und Shares verschaffen, so als kleiner Wink mit dem Zaunpfahl? Egal. Zucker geht jetzt zum biologistischen Teil ihrer prosaischen Ergüsse über und sinniert über die maximierte Fortpflanzungsstrategie von „männlichen“ (!) Säugetieren.

Mann neigt im Social Web zur Übertreibung

Mann neigt zum Überfluss und zur Übertreibung. Im Bio-Lexikon hat Frau Zucker wohl unter P wie Pfau nachgeschlagen und erfahren, dass der männliche Pfau ein herrlich buntes aber völlig nutzloses Rad schlagen kann, um mehr Aufmerksamkeit zu bekommen. Gleiches praktiziert Mann mit einer Kommentarflut im Social Web, um seine semantische DNA flächendeckend zu verstreuen.

Geht es dabei, Frau Zucker, auch um einen Impuls zur Begattung der Leserschaft? Nun sind Likes und Shares ja keine Kommentare, aber ich möchte nicht hausmeisterlich erscheinen. Generell gehen mir die Ausflüge ins Tierreich zur Deutung menschlichen Verhalten zunehmend auf den Sack. Den medientheoretischen Exkurs von Kappes hat die RBB-Kolumnistin wohl überlesen.

Es geht um Medientheorie, liebwerteste Frau Zucker

Kompetenter beobachtet Zeit-Feuilletonist Ijoma Mangold die neuen Spielwiesen des Denkens, die sich in sozialen Netzwerken ausbreiten. Printmedien erscheinen wie ein monolithisches Konstrukt der Letztverbindlichkeit: „Sie schlagen Pflöcke ein, die die Unveränderlichkeit von Grenzziehungen zwischen Richtig und Falsch suggerieren. Die gedruckte Zeitung hat etwas Abgeschlossenes – Roma locuta, causa finit“, so Mangold. Die Drucklegung hat eher den Charakter einer Grablegung.

Im Netz gibt es diese Endgültigkeit nicht. Es gibt einen Anfang, aber kein Ende. Werden Artikel auf Facebook geteilt, entwickeln sich unberechenbare neue Dramaturgien. Inhalte beginnen zu atmen. „Man fühlt sich wie auf einem Schiff, das von den Wellen mal in die eine, mal in die andere Richtung getragen wird – und man muss geschmeidig in den Knien sein, um diese Bewegungen auszubalancieren“, betont der Zeit-Redakteur.

Diskurse ohne Festungen

Der ursprüngliche Artikel hat sich auf belebende Weise mit der Welt verknüpft. Es geht dabei um Vertiefung und Ausdifferenzierung. Mangold benennt Markus Hesselmann vom Tagesspiegel, der Facebook einsetzt, um weitere Ebenen der medienkritischen Selbstbeobachtung einzubauen. Oder Michael Angele vom Freitag, der die elegante Kunst beherrscht, hin- und herzuspringen, um eine Sache von möglichst allen Seiten zu beleuchten und eine Verfestigung der eigenen Position zu vermeiden.

In den Kommentarverläufen oder „Threads“ werden die Thesen von einem bunten Kreis Interessierter nachbearbeitet und neu kontextualisiert – mehr oder weniger. „Blenderargumente und leichte Siege werden süffisant bespöttelt, unverdient übergangene Gegenpositionen ins Spiel gebracht“, führt Mangold weiter aus.

In der Printwelt unterliegt man eher der Fiktion einer stabilen Meinungsidentität. Im Netz geht es um die Unabgeschlossenheit von Diskursen. Nennen wir es lebendigen Prozess-Journalismus, der immer wieder zu Überraschungen führt. Das Teilen und Kommentieren von Beiträgen gehört dazu. Das einseitige Sender-Empfänger-Modell der liebwertesten Gichtlinge der Massenmedien wird demontiert. Der auf der RBB-Website nicht kommentierbare Zucker-Biologismus ist da wohl eher eine Randerscheinung.


Dieser Artikel erschien zuerst auf TheEuropean.de



Image (adapted) „Reading the Newspaper“ by Nick Page (CC BY 2.0)


ist Diplom-Volkswirt, lebt in Bonn und ist Wirtschaftsjournalist, Kolumnist, Moderator und Blogger. Mitglied des Netzpiloten Blogger Networks.


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