MOOCs werden gefeiert. MOOCs werden gehasst. MOOCs sind die Zukunft. Und MOOCs sind die Vergangenheit. Was aber bleibt, ist die digitale Bildung. Und das ist gut so!
Vorletzte Woche war ich eingeladen zum Podiumsgespräch auf dem b.i.t. Sofa anläßlich der Frankfurter Buchmesse. Die Frage war, ob MOOCs ein neues Geschäftsfeld auch für Bibliotheken und Verlage seien?! Da ich mir eine hartnäckige Erkältung eingefangen hatte, war es mir leider nicht möglich, nach Frankfurt zu reisen. Von daher hier jetzt meine Überlegungen in schriftlicher Form.
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Digitale Bildung? Ach, komm. Face-to-face ist doch ganz was anderes, meinen die meisten. Aber stimmt das eigentlich – oder ist dies bloß die Sicht von Anbietern, die ihre Räume verpachten wollen?
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Wie immer hinken wir im deutschsprachigen Diskurs etwas hinterher. Als Innovation kann man hier gut und gerne verkaufen, was andernorts längst state-of-the-art ist.
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Auch wenn sich viele Menschen mit dem Marketing-Begriff schwer tun: MOOCs sind vor allem ein Instrument, um den Anbieter zu vermarkten. Aber das kommt den Usern sehr entgegen.
Ein Blick zurück
2012 war DAS Jahr der MOOCs. Mit dieser Auszeichnung der New York Times hatte die MOOC-Entwicklung, die 2008 bereits startete, ihren Höhepunkt erreicht. Seitdem befindet sie sich auf dem langsamen Abstieg. Langsam deshalb, weil die naturgemäß nachgelagerten politischen Prozesse erst seit 2013 die Bildungs-“Innovation” in Europa fördern. Und die meisten Menschen erst jetzt im MOOC-Zeitalter ankommen. Während andere in der Welt schon längst am NEXT BIG THING stricken.
Von daher erfährt das MOOC-Konzept hier in Europa nur gaaanz langsam eine Umdeutung. Es erscheint mir zunehmend als öffentlicher Türöffner für eine breitere “Digitale Bildung”, also inklusive verschiedener Content-Formate, wie sie in der Grafik rechts angeführt werden. Was wiederum eine schöne Entwicklung wäre, denn davon brauchen wir mehr im digitalen Zugriff – viel mehr sogar angesichts der digitalen Transformationswellen, die aktuell auf uns zurollen.
Aber rekapitulieren wir kurz: MOOC ist das Akronym für „Massive Open Online Course” und damit sind Online-Kurse gemeint, die kostenfrei zur Verfügung stehen und in denen sich ein sehr großer Nutzerkreis eingeschrieben hat. In Expert_innen-Kreisen wird bis heute gerne diskutiert, welcher dieser 4 Buchstaben ihnen der wichtigste sei.
Ich denke, es ist das zweite O – alles andere ist nachrangig bzw. teilweise kontraproduktiv. Kurse sind nämlich ein überholtes Konzept und werden nur deshalb noch gerne aufgesetzt, weil sie schön anschlussfähig sind zu unserem alten Bildungsverständnis. Dieses Bildungsverständnis besagt, es gibt eine_n Lehrende_n, die Wissen aufbereitet für mehrere Lernende.
Aber seitdem es mehr um den wechselseitigen Austausch und die gemeinsame Entwicklung bzw. den Diskurs von implizitem Wissen geht, zumindest mit Blick auf die gesellschaftlichen Herausforderungen, gilt dieses Bildungsverständnis als überholt. (Hält sich aber dennoch sehr hartnäckig, auch oder gerade in den Kontexten, die sich traditioneller Weise mit Bildung beschäftigen. Aber dies nur am Rande bzw. sehen wir gleich, wohin das führt.)
Die zwei Perspektiven
Grundsätzlich gibt es zwei Perspektiven, wie man auf MOOCs blicken kann: Da ist zum einen die Perspektive der Anbieter_innen und zum anderen die Perspektive der User, der Menschen, die solch ein Angebot nutzen könnten.
Wenn die Frage lautet, ob MOOCs auch etwas für Verlage und Bibliotheken seien, dann ist dies die Perspektive der Anbieter. Was könnte es also einem Anbieter bringen, MOOCs anzubieten?
Nichts ist an dieser Perspektive falsch. Ich selbst halte diese Frage sogar für die zentrale, auch wenn sie anders vermarktet wird. Das Standard-Argument eines MOOC-Anbieters lautet immer: „Die Leute sollen lernen, dass …” oder “Wir wollen den Menschen zeigen, dass …” – es ist das alte Denken: Top —> Down.
“Down” SOLL lernen von “Top”, sozusagen. Klassischer Weise in Form einer Vorlesung oder einer medienvermittelnden Video-Aufbereitung, folgt dieses Denken weiterhin der alten Vorstellung des Nürnberger Trichters: Schädeldeckel auf –> Content rein —> Wissen vermittelt. Fertig.
Da es sich herum gesprochen hat, dass diese Vorgehensweise so nicht funktioniert, wird dieser Prozess schon lange “pädagogisch” eingerahmt durch die standardisierte Formulierung von Lehr-/Lernzielen, gefolgt von ebenjenem Top-Down-Vermittlungsprozess – und hinten dran gibt’s dann den Wissenstest, der sicher stellen soll, dass die Lehr-/Lernziele grob erreicht wurden.
Das ist die Form der Bildung, wie sie derzeit gängig ist, auch wenn man modern pädagogisch ahnt, dass auch dieser Prozess nie gut funktioniert hat. Aber so kennen es die User aus unzähligen Formaten – und quälen sich begeistert durch.
Das Problem mit der User-Sicht
An dem Wissenstest erkennt man im MOOC-Kontext die so genannten “xMOOCs“, wie wir sie vorzugsweise in den kostenfreien MOOCs auf den grossen MOOC-Plattformen finden. Das X steht für richtig gross skalierbare MOOCs. Die Nummer 1 der Hitliste der meist gebuchten Online-Kurse als größter Kurs weltweit hat derzeit mehr als 690.000 (!) Lernende. Es ist der FutureLearn-Kurs IELTS.
EXKURS WIKIPEDIA ZU IELTS:
“Das International English Language Testing System (IELTS) ist ein Sprachtest, der die Fähigkeiten einer Person in der englischen Sprache ermittelt.
IELTS wird in zwei unterschiedlichen Testversionen angeboten, die auf verschiedene Nutzergruppen ausgerichtet sind:
Academic – Dieser Test wird hauptsächlich von Studenten absolviert, die an einer Universität im englischsprachigen Ausland oder einer deutschen Hochschule studieren möchten. Die meisten Universitäten in Australien, Großbritannien, Irland, Kanada und Neuseeland sowie mittlerweile über 3.000 Einrichtungen in den USA (Anzahl stetig steigend) akzeptieren den Test als Zulassungsvoraussetzung. Auch immer mehr deutsche Unis und Fachhochschulen verlangen den IELTS für Studiengänge mit internationalen Komponenten (Bachelor/Master). Menschen, die im medizinischen Bereich arbeiten, müssen den IELTS-Test ablegen, um eine Arbeitserlaubnis in oben genannten Ländern zu erhalten.
General Training – Diese Variante wird von Personen absolviert, die einen Nachweis über ihre allgemeinen Englischkenntnisse, beispielsweise für den Beruf oder zur Immigration, benötigen.”
Ein kostenfreier Online-Test-Kurs zur Vorbereitung eines kostenpflichtigen Real-World-Sprachtests sagt einiges über unsere globale Welt aus, in der wir uns aktuell bewegen. Kein Wunder, dass solch ein Angebot massenweise von den Usern abgerufen wird.
Wer aber denkt, diese Massivität erlangt man nur über solch naheliegende Querschnittsthemen, der täuscht sich. Platz 2 mit ebenfalls mehr als 600.000 Einschreibungen geht an den Stanford-Online-Kurs zu „Cryptography I“, Platz 3 an „Programming Mobile Applications for Android Handhelds“ der University of Maryland usw. usf. .
Selbst wenn nur jeweils 3% den Online-Kurs erfolgreich bis zum Schluss durchliefen, so sind das bei 600.000 Teilnehmer_innen doch immerhin 18.000 Leutchen – pro Kurs und ohne Zugangsvoraussetzungen! Insofern macht solch ein freies Bildungsangebot je mehr Sinn, je gesellschaftlich relevanter es ist. Und die Relevanz folgt in diesem Fall dem Gesetz der selbst motivierten Füße. Das wäre eine konsequente User-Sicht.
Man könnte daraus eine Art kollektive Intelligenz ablesen. Nicht im Sinne der von Günter Dueck beschriebenen Schwarmdummheit, sondern im Sinne der Weisheit der Vielen, die sich meist unabhängig voneinander für ein spezifisches Bildungsangebot entscheiden, egal wie pädagogisch sinnvoll das Angebot aufbereitet zu sein scheint. (Auch wenn es vorzugsweise weisse Mittelstandsmänner in mittleren Jahren mit akademischen Abschluss betrifft. Dieses Problem begründet sich meines Erachtens aus anderen sozialen Werten und Praktiken.)
Will man hingegen das Angebot stärker bildungspolitisch lenken, kann man dies ein wenig über das Format steuern – oder über finanzielle Anreizsysteme. (Ich hatte mir dazu an anderer Stelle schon einmal Gedanken gemacht, wann eine öffentliche Förderung gerechtfertigt ist.)
Das Problem mit den Anbietern
Die User-getriebene Entwicklung der xMOOCs ist nämlich keine, die dem modernen Pädagogen schmeckt. Er will beim “Learning Design” ein Wörtchen mitreden – denn er weiss besser, wie Lernen geht. Deshalb präferiert er Angebote, die den reflexiven Part, der klassischer Weise in dem Wissenstest absolviert wurde, möglichst nach vorne in den Vermittlungsprozess als interaktiven Prozess zieht, um dort das Knowhow der “Lernenden” wechselseitig im Gespräch oder in der Praxis besser zu qualifizieren. So weit, so gut.
An dem intensivierten Diskurs und der pädagogischen Aufgabe erkennt man in MOOC-Kontexten den sogenannten (auch kostenfreien) “cMOOC”, der die Lernenden stärker miteinander ins Gespräch bringen will. (C steht für konnektivistisch, aber damit muss man sich nicht näher befassen. Könnte man später nachlesen in Wikipedia. Diese Seite wurde damals von mir mit meinen Studis angelegt …)
Die cMOOCs sind an sich ein interessantes Format, sofern es glückt, eine temporäre Community of Practice dabei zu etablieren. Ihr Problem gleichwohl ist, dass mit zunehmender Skalierung die Unübersichtlichkeit wächst. Die Leute quatschen und quatschen und niemand hat so den genauen Überblick, welches Gequatsche denn nun das Relevanteste beinhaltet.
Entsprechend hat sich in der Folge eine Vielzahl weiterer MOOC-Formate herausgebildet: von projektbasierten Ansätzen (pMOOCs) bis hin zu präsenzbegleiteten Angeboten (bMOOCs – b wie “blended”) gibt es heutzutage ein breites Spektrum an möglichen Formaten, die an dieser Stelle an sich zu vernachlässigen sind. Was sie alle eint, ist ihre Perspektive aus Sicht der Anbieter, vermarktet aus Pseudo-Sicht der User: Der Anbieter WILL dem User zeigen, dass… .
Wie gesagt, nichts ist daran falsch, aber es ist immer eine pädagogische Warte, aus der heraus man sehr paternalistisch agiert – manchmal allerdings auch völlig unverblümt Marketing betreibt. Auch dagegen ist an sich nichts zu sagen, denn welche Motivationslagen gibt es, einen MOOC zu veranstalten, der mitunter sehr aufwändig zu produzieren ist?
Entweder wird a) ein Marketingeffekt erhofft, oder b) ein Ansatzpunkt für eine staatliche o.ä. Förderung angelegt, oder c) man verfolgt tatsächlich eine inhaltliche Mission. Manchmal ist es auch eine Kombination aus verschiedenen Motivationslagen – aus Anbietersicht.
Der Antrieb von Anbietern
Ich selbst denke allerdings, der Marketingaspekt ist der wesentliche Antrieb, der den meisten MOOCs zur Entstehung verhalf. Wogegen auch überhaupt nichts spricht, nur sollte man es dann auch als solches benennen. Und dies nicht hinter pädagogischen Pseudo-Argumenten verbergen.
Es heisst dann nicht länger: Der Anbieter WILL dem User zeigen, dass …, sondern es müsste heissen: Der Anbieter zeigt dem User kostenlos, was er beispielhaft im Angebot hat, damit der User ihn im guten Gedächtnis hält und später ggf. kostenpflichtig zurück kommt.
Insofern können auch Verlage und Bibliotheken hier mit ihrem sehr fachspezifischen Knowhow und Personal durchaus attraktive, für die User kostenfreie MOOC-Angebote unterbreiten und damit einen positiven Marketing-Effekt für sich verbuchen. EduMarketing ist eine sehr attraktive und zeitgemäße Freemium-Form, auf sich aufmerksam zu machen, ohne allzu platt ins Werberische einzusteigen.
MOOCs ermöglichen es zudem, einen Spannungsbogen im Vorfeld aufzubauen und damit einen Event-Charakter zu provozieren, der Aufmerksamkeit in adressierten Zielgruppen-Kreisen auf sich zu lenken vermag. Löst man mit dem Angebot gar ein halbwegs drängendes Problem der User, steht dem Erfolg nichts mehr im Wege.
Von daher: Ja, gerade Verlage und Bibliotheken könnten von diesem Trend derzeit gut profitieren, um einen emotionalen Bezug zu Kund_innen und Partnern herzustellen.
Der Gewinn für die User
Um die eingangs angeführte Perspektive der User hier abschliessend anzuführen, denke ich, diese freuen sich so-oder-so über die wachsende Anzahl an kostenfrei zugänglichen Angeboten. Insofern sie sich im Idealfall sehr selbstbestimmt die für sie relevanten Micro-Inhalte herauspicken, können sie sich entsprechend ihrer eigenen Vorstellungen weiter entwickeln.
Dass manche MOOC-Angebote dafür von ihrer konzeptionellen Anlage her mehr oder weniger prädestiniert sind, ist der pädagogischen Brille geschuldet. Aber darüber kann man als User eines kostenfreien Angebotes ja grosszügig hinweg schauen. Als Anbieter könnte man nichts desto trotz darüber nachdenken, ob der “MOOC” nicht auch deutlich verstärkt aus User-Sicht angelegt werden könnte.
Von daher mag ich nur ermuntern und sagen: Nur zu! Wir User warten bereits!
Gerade Bibliotheken käme in einer modernen Welt der Zukunft ein wesentlicher Beitrag zu, einen attraktiven Bildungsort mit zeitgemäßen, entgrenzten Angeboten zu schaffen. Hier über die tradierte Angebotspalette deutlich hinauszudenken, wünsche ich mir schon lange aus gesellschaftspolitischer Sicht.
Auch Premium-MOOCs für Verlage in Kooperation mit Unternehmen könnten hier ein Format darstellen, das durchaus seinen Platz finden könnte.
Seid kreativ! Ich bin gespannt! Vertiefenden Content zum Verkauf habt ihr ja genug.
P.S. Auch wir befinden uns in der Planung eines (anderen) MOOCs. Das Thema: ARBEIT 4.0. Demnächst mehr auf dem FlowCampus und auf mooin.
Image (adapted) “University Life 239” by Francisco Osorio (CC BY 2.0)
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