Die Kunst auf dem Daten-Highway

Wie hat das Internet die Kunst verändert? Mit dieser anspruchsvollen Frage beschäftigt sich eine Ausstellung in der Whitechapel Gallery in London, die aufregender Weise den Namen “Electronic Superhighway (2016-1966)”, also Datenautobahn, trägt.

Die Ausstellung nimmt den Besucher rückwärts mit auf eine Reise durch bahnbrechende Kunst über das Internet. Wir starten in der Gegenwart, bevor wir auf eine Helter-Skelter-Tour in die Vergangenheit aufbrechen, die uns ins Jahr 1967 zurückversetzt, als das Bell Laboratory anfing, die Zusammenarbeit von Künstlern und Technikern zu sponsern. Diese Zusammenarbeiten brachen mit der Geburt des Internets zusammen. Im Jahre 1968 ging das erste Netzwerk – ARPANET – online und bildete damit die technische Grundlage des heutigen Internets.

Diese Show ist in ihrer Bandbreite wirklich bemerkenswert. Die historische Reise regt zur Reflexion über die rasante Entwicklung unserer Informationsgesellschaft und deren sozialen, wirtschaftlichen und politischen Konsequenzen an.

Die Ausstellung beginnt mit dem banalsten aller Bilder: Ein überdimensionales Bild eines weiblichen Hinterteils, aus dem SMS-Sprechblasen herauskommen. Olaf Breunings Text Butt redet sprichwörtlich Mist, was vielleicht eine freche Entgegnung an die Kunstkritiker darstellt. Es ist auch eine Erinnerung daran, dass, obwohl die Kultur des Internets immer mehr als Kunst gefeiert wird, das meiste davon doch eher trivial bleibt.

Die Banalität ist ein durchgehendes Thema in vielen der zeitgenössischen Werke am Beginn der Ausstellung – beispielsweise James Bridles Hologramm, Homo Sacer, das im Stile eines Flughafens gehalten ist, dröhnt die Binsenweisheiten über den Überwachungsstaat geradezu heraus. Natürlich ist dies auch ein Hinweis auf die dunklen Seiten der Weltlichkeit unseres technologischen Zeitalters.

Douglas Coupland, der renommierte Autor von Generation X, und Trevor Paglen, der für seine umfangreichen Fotografien von NSA-Einrichtungen berühmt wurde, legen dar, dass sich die dunkle Seite immer mehr durch die staatliche Überwachung ausdehnt. Deep Face, Couplands Reihe von Portraits, in denen die Gesichter durch Mondrian-ähnliche Abstraktionen verhüllt sind, sind ein Protest gegen die Entwicklung einer Gesichtserkennungssoftware von Facebook, wurde uns mitgeteilt. Paglen beleuchtet sowohl das Problem als auch die Lösung der Thematik staatlicher Überwachung. Seine Karte von den Unterseekabeln, die von der NSA angezapft sind, hängt direkt hinter dem Autonomy Cube, einem funktionierenden WLAN-Hotspot, der seinen gesamten Traffic durch ein anonymes Tor-Netzwerk schleust.

Wenn man die Ausstellung durchschreitet, fällt besonders auf, wie sehr die Paranoia und die Banalität, die das Internet heute charakterisieren, im Kontrast stehen zu dem Optimismus, der einst das Netz aufbrachte und zu seinem Siegeszug beitrug. Diese Rückschau ermöglicht ein Reflektieren über die gebrochenen Versprechen und ungenutzten Möglichkeiten für den sozialen und politischen Wandel, die frühe Utopien über das Internetzeitalter vorhergesagt hatten.

Der Dreh- und Angelpunkt der Ausstellung stellt zwei Werke einander gegenüber. Die technologische Großartigkeit von Nam June Paiks Video-Installation Internet Dream aus dem Jahre 1994 steht im starken Kontrast mit den voyeuristischen, manchmal sogar pornographischen Klängen von Jill Magids Surveillance Shoe (2000). Obwohl diese nur sechs Jahre auseinander liegen, trennt sie doch eine ganze Epoche. Das erste Werk wurde mitten im Boom des aufkommenden Word Wide Webs geschaffen, das spätere Werk in den Jahren einer platzenden Dotcom-Blase, welche einherging mit der einsetzenden Entwicklung vieler Instrumente (wie etwa der totalen Verfügbarkeit von Information), die heute die Grundlage des Überwachungsstaates des 21. Jahrhunderts bilden – einer Zeit und Gegenstand des neuen Romans von Thomas Pynchon.

Läuft man hinter Magids Schuh vorbei, gelangt man zurück in die Zukunft der unschuldigen ersten Jahrzehnte des Internets. Die letzten verbliebenen Räume beschwören das Gefühl von Neugier und Möglichkeiten, die die ersten Jahre des Internets charakterisierten. Sowohl in Technik als auch in Form abstrakter Experimente, unter anderem von Tom Longson und Frieder Nake, zeigen die Wahrnehmung von unglaublichen Möglichkeiten, die das Aufkommen eines völlig neuen Mediums mit sich brachte.

Eines der letzten Ausstellungsstücke ist ein Poster der Cybernetic Serendipity Ausstellung von 1968. Ihre Slogans versprachen damals “Freudige Entdeckungen eines Wandels”, die durch das Zusammentreffen von Mensch und Maschine entstünden, in einer Ausstellung, die zeige, wie die Menschheit Computer und Technik nutzen könne, um ihre Kreativität und Schaffenskraft zu steigern. Neben ihrem futuristischen Design, ihrer heiteren Sprache und ihrem uneingeschränktem Optimismus, betreffend Missbrauch der Technik, ist dies ein veraltetes Relikt eines vergangenen Zeitalters, in dem Sexting, Ashley-Madison-HacksTempora, Massenüberwachungsprogramme und all die anderen Auswüchse unseres technischen Zeitalters, noch nicht vorhersehbar waren.

Dreht man sich um und läuft zurück durch die Ausstellung – kehrt man also schrittweise in die Gegenwart zurück – kann man die gesamte Auflösung dieser “Cyber-Weide”, die von Richard Brautigan 1967 wie folgt beschrieben, erkennen:

“Wo Säugetiere und Computer in Eintracht zusammenleben und Harmonie programmieren wie reines Wasser und einen klaren Himmel berühren”

Als ich die Ausstellung verließ, blickte ich auf und bemerkte Addie Wagenknechts stählernen Kronleuchter aus CCTV-Kameras, die über uns wachten und die ich beim Hineingehen übersehen hatte. Und dann, gleich draußen vor der Galerie, auf dem kurzen Weg zur U-Bahn-Station Aldgate, entdeckte ich einen Komplex von Kameras, die ähnlich ausgefuchst und provozierend angeordnet waren, wie ich es eben noch in der Ausstellung gesehen hatte. Nur war ich nicht mehr im geschützten Raum einer Kunstgalerie, sondern auf den Straßen einer der meistüberwachten Städte der Welt.

Wie hat das Internet die Kunst verändert? Vielleicht wäre es korrekter zu sagen, dass das Internet uns verändert hat – unser Leben, unsere Beziehungen, Karrieren, Regierungen, Moralvorstellungen, Sprache, Gesellschaften – und die Kunst hat sich mit diesen verändert.

Dieser Artikel erschien zuerst auf “The Conversation” unter CC BY-ND 4.0. Übersetzung mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.


Image (adapted) “The Whitechapel Gallery” by Herry Lawford (CC BY 2.0)


The Conversation

ist Dozent in Amerikawissenschaften an der Universität von Hull. Seine Forschungen fallen weitgehend in die Bereiche der Filmgeschichte, Kulturtheorie und in die US-Außenpolitik.


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