Das interne Bewertungssystem für Online-Artikel der Tageszeitung Die Welt erscheint etwas nervenaufreibend. Allen veröffentlichten Artikeln wird auf Basis von fünf Komponenten ein Wert zugewiesen, der bestimmt, auf welchem Platz sie im Ranking landen. Im Anschluss wird jeden Morgen eine Top-Ten-Liste an die gesamte Nachrichtenredaktion geschickt, die mit einigen Anmerkungen eines Redakteurs versehen ist. Die Redakteure argumentieren, dass dies keineswegs eine dystopische Reduktion von komplexen journalistischen Inhalten auf eine einzige Zahl sei. Vielmehr, sagen sie, werde auf diese Weise transparent gemacht, wie die Redaktion ihre online veröffentlichten Inhalte bewertet – nämlich nicht nur auf Basis von Klickzahlen auf der Seite, sondern unter anderem auch im Hinblick darauf, wie gut ein Artikel in den sozialen Medien geteilt wird.
„Der Wert wurde hauptsächlich eingeführt, um die Produktionsqualität unserer Produkte zu verbessern“, erklärt mir Oliver Michalsky, Chefredakteur von Die Welt online via Mail.
Funktioniert die Überschrift gut? Hätten wir ein Video einbinden sollen? Ist der Erzählstrang so aufgebaut, dass der Leser bis zum Schluss liest? Sind genug Links hinzugefügt worden, um den Leser auf andere relevante Artikel auf Die Welt online zu verweisen? Wir wollen außerdem in den sozialen Netzwerken stärker werden. Daher erfordert der Wert, dass die Redakteure ihre Artikel online teilen. Auf diese Weise erhalten sie ebenfalls einen Ansporn, Video-Inhalte in ihre Artikel zu integrieren.
Die fünf Kriterien, die in den finalen „Artikelwert“ einfließen, sind Seitenaufrufe, Verweildauer auf der Seite, Video-Aufrufe, Social-Media-Traffic und Bounce Rate. Ein Artikel kann bis zu zehn Punkte für den Traffic erzielen, bis zu fünf Punkte in den anderen vier Kategorien, und so einen Maximal-Wert von 30 Punkten erreichen. Diesen Herbst, wenn die Seite von einem kostenpflichtigen Paywall-Modell auf ein Freemium-Modell umgestellt wird, wird eine sechste Kategorie – wie viele Abonnenten hat der Artikel generiert? – eingeführt werden. Die Daten, die in den finalen Wert einfließen, entstammen einem Mix analytischer Tools inklusive Chartbeat (einzelne Reporter haben ebenfalls Zugriff auf Chartbeat). Kürzlich hat die Nachrichtenredaktion die Anzahl der Klicks, die ein Artikel benötigt, um den Maximalwert von zehn Punkten in der Kategorie Seitenaufrufe zu erzielen, von 20.000 auf 30.000 erhöht, doch dieser Sprung ist lediglich daher begründet, „dass wir uns in Bezug auf die Reichweite aktuell sehr gut entwickeln.“
Nicht jeder Traffic ist guter Traffic und ein Leser, der nur kurzfristig auf die Seite kommt, um einen angesagten Artikel zu lesen, ist nicht die Art Leserschaft, die Die Welt sich wünscht, erklärt die Nachrichtenorganisation in einem ersten Posting nach der Einführung des Bewertungssystems. In einem im Februar erschienenen Bericht des Reuters Institute, der untersuchte, wie verschiedene Nachrichtenorganisationen analytische Methoden anwenden, schrieben die Autoren über das Bewertungssystem von Die Welt: „Die Entwicklung des Artikelwerts ist Teil eines strategischen Prozesses, der sich darauf konzentriert, sicherzustellen, dass Die Welt qualitativ hochwertige Inhalte produziert, die die Leser so spannend finden, dass sie die Inhalte nicht nur kurz anklicken, sondern tatsächlich Zeit in das Lesen des Artikels zu investieren und ihn teilen oder vielleicht sogar für ihn bezahlen. Es ist ein eindeutiges Beispiel, wie Die Welt – und Axel Springer allgemein – redaktionelle Analysetechniken entwickeln, die mit spezifischen redaktionellen Zielen (qualitativ hochwertige Inhalte) und Geschäftsmodellen (gebührenpflichtiges Paywall-System) einer spezifischen Organisation einhergehen. Eine Boulevardzeitung wie BILD (ebenfalls zu Axel Springer gehörig) mit einem größeren Schwerpunkt auf Werbung, hohes Traffic-Aufkommen und ein Freemium-Modell anstatt einer kostenpflichtigen Paywall benötigt eine andere Herangehensweise.“
Zwar sind Klicks noch immer wichtig im Bewertungssystem von Die Welt, allerdings werden diese durch die vier weiteren Messparameter ausbalanciert, und die Autoren haben nun einen greifbaren Maßstab, auf den sie hinarbeiten.
Dieser Artikel zum Beispiel hat sich in Bezug auf die Seitenaufrufe gut geschlagen (indem er sieben von zehn Punkten in dieser Kategorie erzielte) und rangiert auf Platz 26, wenn es um den reinen Traffic-Wert geht. Aber „wegen seiner Präsentation und der Einbindung gut gewählter Bilder“ – es geht um eine Analyse der Körpersprache berühmter Personen – „lasen ihn die meisten Leser tatsächlich bis zum Ende und schauten auch das am Ende des Artikels eingebettete Video“ (eine beeindruckende Leistung, denn man muss ziemlich lange scrollen, um zu dem zweiminütigen Video zu gelangen). Was der Artikel bei den Seitenaufrufen einbüßt, macht er in den Punkten Interaktion und Videoaufrufen (beide erzielen jeweils 5 Punkte) wieder gut, und erreichte insgesamt den achten Platz auf der Top-Ten-Liste:
Zusammenfassungen von Talkshows, die in der Nacht zuvor liefen, schlagen sich online immer gut, sagt Michalsky, aber sie haben eher selten die Top-Ten-Liste geknackt, da es rechtliche Einschränkungen den Autoren schwer machen, relevante Videos in ihren Artikeln zu verlinken. Also begann die Zeitung, kurze Video-Zusammenfassungen der Gäste und der diskutierten Themen zu produzieren, indem sie Bildmaterial aus anderen Quellen nahmen. „Und es funktioniert!„, sagt Michalsky, und verweist auf einen aktuellen Artikel über die Kritik, die EU-Parlamentsvorsitzender Martin Schulz an der Türkei und am türkischen Präsidenten Tayyip Erdo?an in einer Talkshow äußerte. Der Artikel erzielte schließlich den zweiten Platz und erreichte sogar den Maximalwert für Videoaufrufe.
„Meine Kollegen sind sehr glücklich mit dem Wert, denn im Gegensatz zur bloßen Reichweite ist er fair„, meint Michalsky, als ich ihn fragte, wie die Autoren auf diese Art des konkreten Feedbacks reagierten. Gab es denn Bedenken, dass es Themenbereiche geben könnte, die einfach mehr Traffic generieren als andere, oder dass bestimmte Artikeltypen wie längere Sonntags-Features auch wirklich in der Interaktions-Komponente entsprechend belohnt werden?
Wir besprechen Artikel hinsichtlich all dieser Aspekte in unserem morgendlichen Meeting. Zum Beispiel zeigen wir die Traffic-Unterschiede zwischen einer schwachen und einer starken Überschrift für einen spezifischen Artikel. Und wir geben den Teammitgliedern Hinweise, wie sie die sozialen Medien nutzen können, um ihre Artikel zu entwickeln und ihre Inhalte zu verbreiten.
Die Themen, die in den Top Ten abgedeckt werden, sind meistens ganz unterschiedlicher Natur: „Die Stärke des Artikelwerts ist es, dass nicht nur Artikel aus der Politik oder Wirtschaft (die Schlüssel-Sektionen auf welt.de) die täglichen Reichweite-Charts stürmen„, sagt Michalsky. „Mit dem Bewertungssystem sind plötzlich Artikel aus Kultur oder Wissenschaft die Nummer Eins, selbst wenn sie auf die Reichweite bezogen nur auf dem zwölften Platz wären. Und unsere direkten Nachrichtenbeiträge erreichen sogar vergleichsweise hohe Interaktionsraten.“
Die Werte der einzelnen Autoren werden nicht getrackt, wohl aber können Autoren über das CMS die spezifischen Daten für alle ihre Artikel herausfinden. Die Welt arbeitet aktuell an der Einführung eines Echtzeitwertes, um den Mitarbeitern die Überwachung der Seite zu vereinfachen.
Dieser Artikel erschien zuerst auf „Nieman Journalism Lab“ unter CC BY-NC-SA 3.0 US. Übersetzung mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.
Image „Die Welt Balloon over Berlin“ by Thomasz Sienicki[CC by 3.0]
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