Digitale Kurzatmigkeit oder analoge Kurzsichtigkeit – Eine Replik

Geht es darum, Rücksicht auch auf die letzten Digitalverweigerer zu nehmen und zu versuchen, sie vom Nutzen digitaler Tools zu überzeugen oder sollten wir den Blick im eigenen Interesse nicht besser in die Zukunft richten?

Das vom Sportverein organisierte Grillwochenende samt anschließendem Frühstück hatten sich alle Teilnehmer nett vorgestellt. Der Sommer nahte und die Unterkunft war reserviert worden. Fehlte nur noch die Organisation des Essens und der Getränke. Leider kam der Kassenwart dann auf die Idee, diese Organisation mit Hilfe eines Schwarzen Bretts im Vereinsheim durchzuführen. Er schrieb mit einem offenen Verteiler an 45 Menschen und fragte, wer etwas beisteuern und dies auf dem Zettel am Brett vermerken könne. Ich versuchte noch, mit einem schnellen Hinweis auf ein ad hoc erstelltes Online-Dokument den erwarteten Mail-Sturm zu verhindern. Es misslang trotz wiederholten Angebots der Hilfe bei Verwendung des digitalen Tools. In den folgenden drei Tagen gingen jeweils Antworten von der Art “Ich bringe ein Marmeladenglas mit” in die Mailboxen dieser 45 Menschen ein. Das Chaos war ausgebrochen, der Stress machte sich breit, nur weil ein Mensch zu Beginn seinen Unwillen zum Ausdruck gebracht hatte, diese Organisation digital durchzuführen.

Diese Situation beschreibt eine gerade stattgefundene wahre Begebenheit und kann sicher von vielen Leserinnen nachvollzogen werden. Und diese Erfahrung ist es, die mich recht kritisch auf einen aktuellen Post von @derPeder reagieren lässt, in dem er vor allem (aber nicht nur) Onlinern entgegen hält, sie würden die Menschen auf dem Weg ins digitale Neuland nicht an die Hand nehmen. Leider geht er in seinem Appell nicht darauf ein, welche Mehrarbeit die digitale Totalverweigerung inzwischen bei Mitmenschen im Alltag verursachen kann. Zur besseren Differenzierung sind im Folgenden stets „dezidierte Offliner“ gemeint, d.h. Menschen, die sich bewusst gegen die Nutzung digitaler Tools entscheiden.

Diese Diskussion kommt uns bekannt vor; sie wurde bereits vor Jahren unter der teilweise auch zweckentfremdeten Begrifflichkeit des „Digitalen Maoismus“ geführt und mündet aktuell um die Debatte des Soziologen Harald Welzer, der in seinem Buch über die angebliche „Smarte Diktatur“ referiert (wie immer in solchen Kontexten frage ich mich, wie diese dezidiert offline lebenden Menschen ihre Kompetenz zur Beurteilung digitaler Logiken erlangt haben).

Digitale kämpfen nicht mehr gegen dezidierte Offliner; sie lassen sie in ihrer Irrelevanz zurück

@derPeder schreibt, den Digitalen würde die Luft ausgehen, weil sie gegen Offliner kämpfen würden, dass man sich über Menschen, die gerade mit dem Bloggen anfangen, lustig machen würde, dass sich die Digitalen in ihre Filter-Bubble zurückziehen würden und dass das Wissensmanagement in Institutionen in Folge der Digitalisierung auf der Strecke bleiben würde. Dies ist ein bunter Strauß von Kritik, der aber natürlich eine nähere Betrachtung verdient. Er endet mit dem Hinweis: “Was aber sicherlich nicht hilft, ist der derzeit häufig zu erlebende Kampf der digitalen Vordenker gegen die Offliner”.

Dem kann man nun entgegen halten,

  • dass diese Kritik von einem Debattenstand ausgeht, den wir so gar nicht mehr aktuell vorfinden. Die Zeiten, in denen Onliner gegen dezidierte Offliner „kämpfen“, sind längst vorbei. Die relevante Netzdebatte findet dort statt, wo sie hingehört: nämlich ins Netz und nicht in den Blätterwald dieser Republik. Es hat sich längst eine digitale Kultur herausgebildet, die mit den Ritualen der offline lebenden wirtschaftlichen und politischen Entscheider kaum noch etwas zu tun hat. Oder könntet ihr euch vorstellen, dass Zetsche und Merkel auf Twitter über ein neues E-Klassemodell twittern?

  • dass, wenn Menschen mit dem Bloggen beginnen und sich im ersten Text gleich sehr kritisch mit der digitalen Kultur auseinandersetzen, man sich nicht wundern muss, wenn einem Kritik aus dem Wald, in dem man gerade so hineingerufen hat, auch wieder entgegen schallt. Dies ist keine Eigenart des Digitalen, sondern soziales Grundprinzip von Gruppen gegenüber neuen unbekannten Mitgliedern dieser Gruppe.

  • dass die Diskussion um die Filter-Bubble hierzulande bereits im Jahre 2011 intensiv von @mspro angesprochen worden ist. In Offline-Runden des letzten Jahrtausends nannte man diese übrigens nicht “Filter-Bubble” sondern “Kamingespräche”. Der Unterschied zu heute: Man kann sich, wenn man offen ist, jede Filter-Bubble einmal selbst ansehen. Das war bei den Kamingesprächen nicht möglich.

  • dass der Terminus „Wissensmanagement“ ein Ansatz aus der Welt der alten Arbeit ist und die Vorstellung beinhaltet, man könnte Wissen von oben nach unten steuern und verwalten.

So unterschiedlich kann die Wahrnehmung der Debatte um das Verhältnis von Off- und Onlinern sein. Gäbe es diesen Kampf der Digitalen gegen die Offliner, so hätte es wohl nicht ein neues Cluetrain Manifest geben müssen.

Digitalisierung: Flucht nach vorn statt Warten auf die Letzten

Nun beschreibt die obige Vereinssituation sicher nicht eine existenziell bedrohliche Situation. Sollten wir die Debatte um den Widerstand so vieler Menschen in dieser Republik, sich der digitalen Welt gegenüber offen zu zeigen, auf sich beruhen lassen? Ich glaube, dass wir im Interesse der Menschen, unserer Gesellschaft und des Überlebens der hiesigen Unternehmen auf dem Weltmarkt uns ganz im Gegenteil diesem Problem offen stellen müssen.

AlphaGo hat gezeigt, dass wir in einem Stadium der Entwicklung von entscheidungsfähigen Techniken angelangt sind, in dem wir diese Entscheidungen gar nicht mehr nachvollziehen können. Wäre es deshalb nicht an der Zeit, die hinter Algorithmen stehenden Entscheidungslogiken einer kritischen Prüfung zu hinterziehen?
Wie wollen wir die technischen – jedoch politisch relevanten – Experimente der Betreiber von Facebook denn überhaupt kritisieren, wenn wir von vornherein deutlich machen, dass wir mit “diesem Facebook” nichts zu tun haben wollen. Wie wollen wir die digitale Durchdringung unseres Alltags sachlich fundiert kritisieren, wenn wir wie im Fall von Harald Welzer digital gar nicht unterwegs sind? Wie wollen wir Überwachungsmechanismen wie die des persönlichen Risk Scores überhaupt verstehen und verhindern, wenn wir immer wieder von vorn anfangen müssen zu erklären, was ein “Score” im Netz überhaupt sein kann? Wollen wir die Beurteilung juristischer Streitfälle, die existenzbedrohend sein können, durch Algorithmen dadurch verhindern, dass wir die Anwendung solcher digitaler im traditionellen Sinne grenzenloser Tools auf dem Staatsgebiet der Bundesrepublik verbieten?

Diese Verweigerungshaltung von bisher relevanten Akteuren in Wirtschaft und Politik gegenüber der digitalen Welt hat bereits volkswirtschaftlichen Schaden angerichtet (Stichwort z.B. Störerhaftung). In der politischen Sphäre hat sich Deutschland bis vor kurzem geweigert, der Open Government Partnership beizutreten. Die Verweigerungshaltung auf betrieblicher Ebene hat zu krisenhaften Zuständen in der deutschen Autoindustrie geführt, die plötzlich als altbacken im Vergleich zu Tesla und Co. erscheinen. Wenn hochbezahlte Manager und Vorstände immer noch nicht – und das trotz des Vorliegens etlicher Studien – begriffen haben, dass die Digitalisierung ein Thema für sie sein könnte, sind sie fehl am Platze

Und schließlich: Können wir es uns wirklich noch erlauben, auch auf die letzten digitalen Verweigerer zu warten, die den Geruch eines Buches immer noch höher einschätzen als die Frage, wie ihre Kinder in der digitalen Zukunft eines globalisierten und hoch technisierten Arbeitsmarktes überleben können?

Wir spüren den kalten Atem des Algorithmus im Nacken

Eine kürzlich vorgestellte Delphi-Studie (alle Inhalte CC) zur Zukunft der Arbeit hat die dramatischen Umwälzungen, denen wir uns im Bereich Arbeit und Bildung in den nächsten Jahren dringend und offensiv stellen müssen, beschrieben:

  • “Tech unemployment will accelerate when AI masters vision and how to learn

  • Everything that can be automated will be

  • We will see the rise of human tech symbiosis

  • There will be no plateau in which human labor will have a chance to catch up.

  • We are currently developing a second intelligent species which humans simply cannot compete with. Has far more capability and less cost than humans.

  • The current leaps in automation and AI will not „plateau“. That is the key dynamic we absolutely must address. Never in the history of mankind has the technology itself been so free of man to improve itself”

Halten wir uns angesichts dieser Perspektive nochmals vor Augen, was der Text von @derPeder einfordert; er fordert die menschliche “Abwärtskompatibilität” im Miteinander. Es ist nie gesagt worden, dass eine Unterstützung von Menschen, die das Digitale bei der Arbeit oder im Privatleben verstärkt nutzen wollen, denen aber anfangs die entsprechende Kompetenz fehlt, durch Onliner ausbleibt; ich habe nirgendwo mehr Hilfsbereitschaft erlebt als in nerdigen oder netzaffinen Communites! Geht einfach auf die Nerds oder die von euch als nerdig wahrgenommenen Menschen, Kollegen oder Freunde zu und fragt sie. Denn die vom Delphi aufgeworfenen Szenarien zeigen schließlich den drängenden Handlungsbedarf der Anpassung an veränderten Arbeitsweisen.

Es muss jedoch auch die Bereitschaft zur Offenheit, zum Eingestehen des eigenen Beginner-Status im digitalen Bereich und zum Anpassen an veränderte Arbeitsweisen vorhanden sein. Diese Offenheit erlebe ich aber gerade bei politischen und wirtschaftlichen Entscheidern in den seltensten Fällen. Steht diesen dezidierten Offlinern vielleicht am Ende eher die eigene Eitelkeit und weniger der digitale Enthusiast im Weg? Das sollten wir herausfinden.


Image Geschäftspartner by Unsplash (CCo Public Domain)


arbeitet seit 2002 bei der Bertelsmann Stiftung. Zuvor war er an den Universitäten Kiel und Göteborg und bei der Gewerkschaft ver.di tätig. Er baute in den letzten Jahren die internationale Bloggerplattform Futurechallenges.org auf, bloggt privat auf Globaler-Wandel.eu, ist Co-Founder der Menschenrechtsplattform Irrepressiblevoices.org (http://irrepressiblevoices.org/) und engagiert sich im virtuellen Think Tank Collaboratory. Mitglied des Netzpiloten Blogger Networks.


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8 comments

  1. Danke für diese Replik Ole. Ich freue mich übrigens, wenn weitere (N)Onliner in die Diskussion einsteigen würden.
    Du hast einen schönen, teil historischen Roundup zu meinem Beitrag geleistet, mich aber ansonsten teilweise missverstanden. Explizit habe ich in meinem Beitrag ausgeschlossen, dass „sich natürlich nicht jeder Kulturpessimist, Paranoide oder
    Nonliner überzeugen lässt“ und: „Ich will hier auch kein Verständnis für die
    “Analog-aus-Überzeugung-Dauer-Verweigerer” einfordern.“ (siehe ebendort: https://medium.com/hundert-eins/digitale-kurzatmigkeit-8b2ecc420dc9#.y9wbhx2ue). Mir geht es im Gegenteil darum, dass die von Dir angesprochene Hilfsbereitschaft und Unterstützung nicht ausbleibt, wenn Spätzünder eben diese suchen. Meine Beobachtung ist leider, dass diese aus Frustration gegenüber den Verweigerern immer öfter ausbleibt und sich einige Digitale es lieber in ihrer selbstgeschaffenen Komfortzone bequem machen. Das ist die gleiche Verweigerungshaltung, die wir der anderen Seite vorwerfen und bringt in der Konsequenz zwei große unvereinbare Fronten und eine kleine Restmenge zwischen allen Stühlen. Da die digitale Transformation unsere Gesellschaft aber erst am Anfang steht, kann das nicht das Ziel für die nächsten Jahre sein.

    1. Was früher LAN-Party ist heute Crypto-Party #Zustimmung Ich lenke die Aufmerksamkeit auf den digitalen Reifegrad der Unternehmen und die gewährten Freiräume, in denen sich aktuell 4 Generationen von Mitarbeitern in der gleichen Firma bewegen und bespasst werden wollen. Aus meiner Sicht kein Alters-, aber German Ur-Angst Phänomen: wenn BWM Connected Drive Fahrverstösse und Fahrstile protokolliert und darauf Service- oder kein Service-Angebot kalkuliert (Car Forensik) oder die Abschaffung der WLAN Störerhaftung nur in den Kommentaren, aber nicht im Gesetzestext sich finden – und alles so bleibt, wie bisher….. wenn auch unter dem Kontext Social Media Nutzung habe ich es mit einem Zoo verglichen: http://www.smowl.de/fisch-braten-fuer-sushi/ LG, JW

  2. Hallo Peter, danke dir für die Klarstellung zu diesem Punkt. Ich habe aus diesem Grund von den „dezidierten Offlinern“ gesprochen, da es mir wichtig war, dass nur diese so direkt zu kritisieren sind. Du nennst sie (zu Recht) Kulturpessimisten. Dass „Spätzündern“ auch weiterhin zu helfen ist, wenn sich Fragen zu Anwendungen und zum Verständnis digital geprägter Arbeitsprozesse stellen, ist selbstredend. Leider muss aber eben beim Blick auf die politische (Vorsitzender einer ehemaligen sogenannten Volkspartei) oder wirtschaftliche (Manager aus der Branche der Blechebieger) Entscheiderebene eher von den dezidierten Offlinern gesprochen werden. Dies ist insofern fatal, da diese Einstellungen und Werte das Wirtschaften und die Politik im Land mit der zweitältesten Bevölkerung der Welt bestimmen und der nachfolgenden jüngeren Generation nun eine schlechtere Ausgangsposition auf einem globalisierten Arbeitsmarkt einräumen. Insofern sollten wir am Ball bleiben und weiterhin den Finger in die digitale Wunde legen. Und ich denke, dass wir uns in diesem Punkt auf jeden Fall einig sind (da bin ich mir sogar ziemlich sicher). VG

  3. Hallo Ole, hallo Peter, ich sehe kein Ausbleiben von Hilfsangeboten gegenüber den „Bedürftigen“. Wer mal Google bemüht („Social Media Einstieg“, „Social Media Best Practices“, „Bloggen Einstieg“) findet auf Anhieb eine große Anzahl an kostenlosen und absolut hilfreichen Angeboten. Das ist in der digitalen Community auch nichts neues. Wer erinnert sich nicht an die vielen Fachmagazine in den 80er und 90er Jahren (ja die kosteten ein paar Mark) mit Tipps und Anleitungen für Gamer, Programmierer und Hardware-Freaks? Es gab und gibt immer wieder solche Angebote. Natürlich sind auch ein paar Puristen und Eliten unterwegs. Wer an so jemanden gerät, ok da kann es zu Ablehnungserscheinungen kommen, geschenkt. Dennoch kenne ich kaum eine andere Community, die so barrierefrei ist, wie die 2.0 oder bald 4.0. Ich möchte hier noch zwei Punkte hinzufügen. Erstens sollte man die Diskussion aus meiner Sicht in privates und berufliches trennen (s. Oles Kommentar). Wer im Privaten Online verweigert, kann das natürlich tun. Aber im beruflichen Umfeld ist es etwas anderes. Wenn interne Prozesse aufgrund der Verweigerung einzelner verlangsamen, erschwert werden, dann leidet u.U. ein ganzes Unternehmen, oder Teile dessen. Das kann nur bedingt aufgefangen werden. Hier müssen neben Angeboten auch Forderungen gestellt werden. Mein zweiter Punkt ist, die Hilfe quer durch die Generationen. Die trickel-down Effekte sind, meiner Ansicht nach, schon beachtlich. Wie viele reichen Ihr Wissen an Eltern, Onkel, Tanten und Großeltern weiter. Wie viele installieren, pflegen Systeme, Smartphones und Accounts. Jeden Tag, jedes Wochenende? Ich sehe keine, oder maximal eine partielle Verweigerung von Hilfe für „Bedürftige“.

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