Warum Industrie 4.0-Lobbyisten mehr denken sollten – Nachtrag zum #ctk2016

Haben Strategen im 21.Jahrhundert ausgedient? Weit gefehlt. Sie dürfen nur nicht den Regeln von mechanistischen Modellen folgen. Das war schon immer ein Fehler. Erfolgreiche Unternehmer haben das zu allen Zeiten unkonventionell gehandelt. Schnelligkeit, Stärken nutzen, Erfahrung, Urteilskraft, siebter Sinn und Intuition kann man nicht planen. Unternehmerisches Handeln ist nur schwer zu systematisieren. Wie gute Unternehmer handeln und entscheiden, ist häufig von Zufällen abhängig und widerspricht dem ideologischen Weltbild von Planungsfanatikern.

Am völligen Versagen der Wirtschaftsforschungsinstitute bei der Vorhersage der Finanzkrise kann man erkennen, wie wenig formelhafte Theorien für das Wirtschaftsleben taugen. Wer das praktiziert, landet in der Bürokratiefalle. Denn sehnen sich die Mechanisten in den Chefetagen der Konzerne und mittelständischen Firmen nach Kennziffern, Regeln, Methoden, Benchmarks und Best Practise-Ratschlägen, ums Paradies der Effizienz, Effektivität und Profitmaximierung. Sie hören Begriffe wie Industrie 4.0, Lean Management oder Kaizen und ordnen es direkt in ihre System-Schubladen ein für Erfolg und Glückseligkeit.

Technokratisches Wortgeklingel

Denken kommt dabei leider nicht an erster Stelle, moniert Guido Bosbach in einer Session des Change to Kaizen-Forums in Mannheim, die er gemeinsam mit mir präsentierte. Es regiert technokratisches Wortgeklingel, um wieder zur Tagesordnung übergehen zu können.

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Industrie-Vordenker in Wirtschaft, Politik und Wissenschaft ergötzen sich an Formeln. Sie besichtigen eine Produktionshalle von Toyota, hören das geheimnisvolle Credo von Kaizen, wandeln das Ganze in einen „kontinuierlichen Verbesserungsprozess“ um und fixieren es mit 80 Regeln, die in einem Lastenheft dokumentiert werden. Leerformeln abspulen, statt über die Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns zu grübeln.

Aber genau das steckt hinter der Jahrhunderte alten Kultur von KAIZEN, erläuterte der Industrie-Fachmann Mario Buchinger auf der Mannheimer Fachtagung im Technoseum. „Es geht um die Veränderung zum Guten – gemeinsam besser werden. Das klingt für deutsche Manager schon viel zu philosophisch.“

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Egozentrische Manager hassen Kaizen und lieben Tastendrücker

In Deutschland spricht man lieber von der Qualitätsmethodik. Sich selbst zu hinterfragen, kleine Schritte zu gehen und das Wohl der Gesamtheit im Auge zu behalten, sei für egozentrische Manager Gift. Da wird das so genannte Humankapital dann doch lieber zur Kennziffer im Controlling degradiert. Der Mensch als Faktor der Verschwendung wird mit Prinzipien-Huberei entweder in der Speedfactory eliminiert oder zum optimierten Tastendrücker in „Shopfloors“ montiert.

Shopfloor klingt irgendwie eleganter als Werkstatt oder Fertigungshalle. Der kosteneffiziente Tastendrücker taucht in den Präsentationsfolien der schlanken Industrie 4.0-Propagandisten als „Dirigent der Wertschöpfungskette“ auf. Ist in der Realität zwar immer noch langweilig, kann aber als Tätigkeit mit Gamification-Tools zu olympischen Höchstleistungen gebracht werden. Einen kleinen Unterschied zu früher gibt es dennoch.

Maschine und Werkstück als Dirigenten der Wertschöpfungskette

Die Anweisungen bekommt der Tastendrücker nicht mehr von hausmeisterlichen Vorarbeitern, sondern von einem Werkstück oder einer Maschine. Dem „Dirigenten“ wird die Rolle zugewiesen, auf optische und akustische Signale zu reagieren und vorbestimmte Handlungsmuster auszuführen auf Basis von Prozessinformationen und Algorithmen.

„Mitarbeiter werden zu Objekten. Es ist der Mensch in der Fabrik, der sich an die Vorstellung gewöhnen muss, dass das Werkstück bestimmt, was wer wann und wo zu tun hat. Die Aufgaben des Vorgesetzten übernimmt dann das Material, das bearbeitet werden möchte. Ein seltsames Verständnis von Dirigententum“, kritisierte Professor Andreas Syska in seinem Vortrag beim Kaizen-Symposium. Gewinner sind in diesem industriellen Denkmuster die Ingenieure. Kaizen sehen sie eher als überflüssige „Räucherstäbchen-Runden“.

„Begeistert sind all jene, die Betriebsführung mit der Gestaltung von technischen Systemen verwechseln und lieber mit Technik als mit Menschen zu tun haben. Industrie 4.0 ermöglicht den Führungsschwachen die langersehnte Flucht vor ihren eigenen Mitarbeitern“, so Syska.

Fehlanzeige bei Kommunikationskompetenz

Mit dieser fabrikfixierten Nabelschau werden die Industrie 4.0-Flötisten allerdings scheitern. „Industrie 4.0 ist ein Kind der Stückfertigung kleiner Serien nach dem Verrichtungsprinzip. Dort liegen die geistigen Wurzeln“, erläutert Produktionsexperte Syska. Aber genau da fängt das Problem an. Das Thema wird auf die Fabrik beschränkt, ohne über notwendige Kompetenz für digitale Plattformen, neue Märkte, Vernetzungsintelligenz oder Wissensmangement in Schwärmen nachzudenken. Es wird den deutschen Unternehmen in offenen Strukturen schwerfallen, ihre Fertigungshoheit zu verteidigen. Mit den Ichlingen des Ingeniuerswesens gelingt das mit Sicherheit nicht. Das sind Ego-Dirigenten, die sich im Kreis drehen.

Wahre Führungspersönlichkeiten haben Follower und verstecken sich nicht hinter „schlanken“ Prozessen, Musterlösungen, linearen Methoden und Routinen. „Führung ist vor allem Kommunikation, Vernetzung und die Ermöglichung des Lernens voneinander“, schreibt Josephine Hofmann vom Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation. An den technischen Hochschulen sollte Philosophie als Pflichtfach eingeführt werden. Das Notiz-Amt sieht hier Reformbedarf.


Image „Spielsteine-Netzwerk-vernetzt“ by geralt (CC0 Public Domain)


ist Diplom-Volkswirt, lebt in Bonn und ist Wirtschaftsjournalist, Kolumnist, Moderator und Blogger. Mitglied des Netzpiloten Blogger Networks.


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