Um Apples groß angekündigte kabellose Kopfhörer AirPods herrschte lange Zeit viel Lärm um nichts. Erst mit monatelanger Verspätung kamen die Kopfhörer auf den Markt. Und auch zum Erscheinen dieses Artikels müssen Online-Käufer sich noch gedulden, bis sie das 180 Euro teure Lauscherpaar in den Händen halten. Die Wartezeit im Apple Store beträgt sechs Wochen. Mir lag inzwischen bereits ein Test-Exemplar vor. Vor meinem geistigen Ohr erklang die Frage: Lohnen sich Kaufpreis und Wartezeit? Am liebsten möchte ich mit einem Sprachbefehl antworten: „Siri, sag’ mal Apple, die AirPods sind nicht schlecht, da geht aber noch mehr.“
Warum Apple einen Bluetooth-Kopfhörer bringt
Die Auswahl an kabellosen Kopfhörern mit Bluetooth ist groß. Auch Apples Tochterfirma Beats mischt in diesem Bereich mit. Warum bringt Apple dann unter eigener Marke ein eigenes Modell heraus? Das lässt sich nur mit einem Blick auf die aktuelle iPhone-Generation 7 (Plus) verstehen (hier zu Test). Sie verzichtet auf einen Klinkenstecker. Ist der Lightning-Port fürs Aufladen belegt, kann das iPhone nur noch mit Funkkopfhörern kommunizieren. Die AirPods sollen als Referenz dafür herhalten, wie sich Apple smarte, kabellose Kopfhörer von heute vorstellt.
Das Design: Ein Griff ins Klo
Die Formsprache schauen sich andere Hersteller aber bitte gefälligst nicht ab. Die weißen Kopfhörer sehen einem Mundstück für eine Elektro-Zahnbürste täuschend ähnlich. Und die im Lieferumfang enthaltene weiße Transportbox mit den abgerundeten Ecken mutet wie ein Spender für Zahnseide an. Das Transportgehäuse lässt sich ja außer Sichtweite in der Hosentasche verstauen, aber diese Kopfhörer empfinde ich in der Öffentlichkeit als ästhetisch total indiskutabel. Beim Praxistest in der U-Bahn habe ich mich geradezu geniert.
Gut vernetzt im Apple-Ökosystem
Immerhin erfüllt das Verlängerungsstück der Ohrknöpfe einen höheren Zweck. Sie bieten Platz für die ganzen Chips, Mikros und andere Sensoren, die in den AirPods stecken. Diese Technik-Innereien ermöglichen ein paar ziemlich clevere Funktionen.
Apple hebt besonders den selbst entwickelten W1-Chip hervor. Damit lassen sich die AirPods in meinem Praxistest mit einem iPhone 6 so einfach und schnell verbinden, wie zuvor mit keinem anderen Bluetooth-Kopfhörer. Einfach Bluetooth auf dem iPhone aktivieren, die AirPods in die Nähe des iPhones halten und – zack – bestätigt ein eingeblendetes Fenster die erfolgreiche Kontaktaufnahme.
Ist dieses Pairing mit einem Apple-Gerät einmal vollzogen, kann ich die AirPods sogar an meinem iPad und iMac oder meiner Apple Watch verwenden – ohne weitere Einrichtung. Die Einstellungen wurden einfach automatisch per iCloud übernommen. Etwa im Bluetooth-Menü des iMac tauchen die AirPods dann bereits auf. Wähle ich sie aus, ist die Verbindung umgehend hergestellt.
Ob ich die AirPods im Ohr trage, erkennt ein Infrarotsensor. Entferne ich die Kopfhörer, unterbricht die Musik selbständig. Praktisch!
Sprachsteuerung per Siri nicht zu Ende gedacht
Die smarte Sensorik ist auch deshalb so wichtig, weil es keine physischen Bedienelemente an den Kopfhörern selbst gibt. Bei der Musiksteuerung kommt Apples Sprachassistentin Siri eine große Rolle zu. Habe ich mir bei Siri Gehör verschafft, stellt sie für mich auf Wunsch die Musik lauter und leiser oder ruft bestimmte Titel und Playlisten auf. Das klappt zuverlässig. Siris Dienstantritt gelingt jedoch nicht immer. Ein Doppeltipp auf die AirPods soll sie eigentlich aktivieren, führt aber in meinem Test nur in etwa der Hälfte der Fälle zum Erfolg.
Daher betrachte ich die Sprachsteuerung der AirPods als unausgereiftes Konzept. Selbst wenn Siri in neun Fällen reagiert und nur im zehnten nicht, wäre sie der Zuverlässigkeit einer physischen Fernbedienung an der Ohrmuschel immer noch unterlegen.
Außerdem ist es natürlich eine groteske Vorstellung, in der U-Bahn oder anderen öffentlichen Räumen die AirPods per Sprache zu steuern. Stattdessen dürften die meisten Nutzer das iPhone aus der Tasche holen und die Aktion am Gerät selbst vornehmen. Besteht keine Internetverbindung, müssen sie das sogar. Denn als cloud-basierter Dienst benötigt Siri auch für die Musiksteuerung Zugriff auf Apples Sprachserver. Sorry Apple, diese Idee ist in Sachen Usability nicht zu Ende gedacht.
AirPods sitzen gut, geizen mit Bass, schirmen nicht ab
Bei der Passgenauigkeit geht Apples „Keep it simple“-Credo immerhin auf. Die AirPods gibt es in genau einer Größe, Silikonaufsätze für den maßgefertigten Einsatz im Ohr sind nicht vorgesehen. Dennoch sitzen die Knöpfe stabil in meinen Ohren. Dem Vernehmen nach ist das bei der Mehrheit der Träger der Fall.
Dass Apple auf eine klassische In-Ear-Bauweise mit tiefer Verankerung im Gehörgang verzichtet, hat aber auch gravierende Nachteile. Die AirPods schirmen so gut wie gar nicht ab. Weder halten Umgebungsgeräusche fern, noch schützen sie meine Sitznachbarn davor, durch meine Musik belästigt zu werden.
Angesichts dieses Formfaktors überrascht es auch nicht, dass die AirPods sehr bass-arm klingen. Gerade bei den kleinen Treibern von In-Ears hängen Bassintensität und die Position im Gehörgang eng zusammen.
In anderen klanglichen Teildisziplinen überzeugen die AirPods. Sie machen auf mich einen sehr detailreichen, räumlichen Eindruck. Die Bluetooth-Verbindung hatte auf naher Distanz in meinem Testzeitraum keinen einzigen Aussetzer. Weil die AirPods dabei aber eben so unfassbar dünn klingen, ist das nur ein schwacher Trost.
Das perfekte Telefonie-Headset
Die einwandfreie Detailwiedergabe in den Mitten und Höhen kommt den AirPods beim Einsatz als Telefonie-Headset zugute. Zudem filtern die integrierten Richtmikrofone störende Umgebungsgeräusche souverän heraus. Ich kann mich an keinen Bluetooth-Kopfhörer mit besserer Sprachqualität erinnern. Auch meine Gegenüber verstanden mich einwandfrei, so, als säße ich am Hörer eines Festnetztelefons.
Akkulaufzeit nur mit Transportbox brauchbar
In den kleinen Knöpfen ist natürlich nicht viel Platz für einen Akku. Und all die smarten Funktionen zehren auch noch vom knappen Energievorrat. Mit bis zu fünf Stunden Laufzeit bis zur nächsten Aufladung sind die AirPods daher akkumäßig etwas kurzatmig aufgestellt.
Nur in Kombination mit der Transportbox ist die Akkulaufzeit praxistauglich. Sie beinhaltet einen eigenen Akku, der die AirPods bis zu vier Mal aufladen können soll, ehe sie selbst per Lightning-Kabel neue Energie tanken muss. Rund 24 Stunden maximale Akkulaufzeit sind ein gehobener Wert. In meinem Praxistest kam ich mit dieser Größenordnung prima über die Runden, ohne überraschend mit leeren Kopfhörern dazustehen.
Fazit: AirPods als Technologie-Demo für Apple-Fans
Unterm Strich bietet Apple mit den AirPods einen viel versprechenden Ausblick darauf, wohin die Reise bei smarten Kopfhörern geht. Das Pionier-Produkt teilt jedoch das Schicksal vieler anderer Modelle der ersten Generation. Für den Einsatz im Alltag einer breiten Masse taugen sie nicht. Das ungewöhnliche Design mit seinem Zahnhygiene-Flair ist sozial kaum akzeptabel, die Sprachbedienung ist nicht ausgereift, der bass-arme Klang ist nicht standesgemäß in dieser Preiskategorie.
Die einfache Vernetzung mit Apple-Geräten ist hingegen prima gelungen. Und als Telefonie-Headset machen die AirPods eine Top-Figur. Dies allein reicht aber nicht für eine Kaufempfehlung. Zur Anschaffung der AirPods ist nur Apple-Fans zu raten, die sich ihr Exemplar einer historisch bedeutsamen Technologie-Demo sichern wollen.
Images by Berti Kolbow-Lehradt
Dieser Text erschien zuerst bei den Applepiloten.
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