5 Gründe, warum der öffentliche Personennahverkehr in Tokio so gut ist

Zwischen April und Juni habe ich eine Workation in Tokio gemacht. Japan ist nicht in allen Dingen so fortschrittlich, wie es der Ruf oft noch immer suggeriert. Doch zumindest wenn es um die Fahrten mit den Bahnen in und um Tokio geht, werde ich zurück in Deutschland wohl einiges vermissen. Allem voran: die unglaublich praktischen IC-Karten. Zusammen mit der allgemeinen Ruhe in den Bahnen und den kleinen Jingles an jeder Station, tröstet es darüber hinweg, dass ich nur selten die Bequemlichkeit eines Sitzplatzes genieße. Doch warum läuft der öffentliche Personennahverkehr in Tokio so außergewöhnlich gut?

Immerhin ist Tokio keine kleine Stadt, dessen Verkehrsaufkommen überschaubar wäre. In Tokio selbst leben fast 14 Millionen Menschen, in der Metropolregion sind es 37,2 Millionen Menschen. Dabei gehen gleich 4 Millionenstädte nahtlos ineinander über, ohne dass man es merkt. Außerdem liegen in Tokio auch die drei Bahnhöfe mit dem weltweit höchsten Passagieraufkommen. Auch sonst ist Tokio und Japan im allgemeinen bei den verkehrsreichsten Bahnhöfen sehr oft vertreten. Wie schafft Tokio das?

1.     Straßen sind nicht zum Parken gemacht

Um den öffentlichen Personennahverkehr in Tokio zu verstehen, muss man auch die Straßen Japans kennen. Entgegen deutschen Straßen ist es dort keine Normalität an den Seiten zu parken. Tatsächlich sind gerade in Wohngegenden die Straßen häufig nur breit genug, dass sich zwei Autos noch so gerade aneinander vorbeischlängeln können. Oft gibt es dabei weder erhobene Fuß- noch Radwege, sondern höchstens schmale Markierungen für die Fußgänger.

Das ist natürlich auch dem allgemeinen Platzproblem in urbanen Regionen geschuldet. Trotzdem bedeutet es, dass man nicht überall, wo man hin möchte auch irgendwo an der Straße einfach parken darf. Aus demselben Grund sind übrigens auch E-Scooter sehr selten. Wegen den engen Straßen gibt es wenige, fest vorgeschriebene Bereiche, in denen man die Roller abstellt.

2.     Teure Parkplätze und Maut

Wegen fehlenden Parkplätzen am Straßenrand gibt es überall ausgewiesene Parkplätze. Diese kosten allerdings mächtig Geld. Während man in weniger dichtbesiedelten Regionen noch relativ günstig parkt, zahlt man in Tokios Zentren dagegen schnell mehrere hundert Yen pro Stunde (1 Euro = 147 Yen, April 2023). Das macht längeres Parken zu einem ziemlichen Luxus.

Teuer ist es aber auch die Autobahnen zu nutzen. Die sind in Japan nämlich mautpflichtig und können somit ebenso stark ins Geld gehen. Dabei gibt es sowohl Fixbeträge als auch Kosten nach gefahrener Strecke. Außerdem gibt es wieder Unterschiede zwischen Stoßzeiten und Ruhezeiten. Der öffentliche Personennahverkehr in Tokio wird damit besonders zu Stoßzeiten interessant – gerade weil das Auto bewusst unattraktiv gemacht.

3.     Gutes Streckennetz

Das Streckennetz selbst spielt natürlich auch eine wichtige Rolle, vor allem wenn es aus der Stadt raus geht. Gerade dort knirscht es in Deutschland am meisten. Zum einen sind selbst viele Orte im näheren Umfeld zu Großsstädten oft schlecht vernetzt, zum anderen ist das Schienennetz völlig veraltet, nutzt viele Strecken für Güter, Personenverkehr und Schnellzüge zugleich. In Japan gibt es zwar auch wenige eigene Strecken für Güterverkehr, aber auf den Schienen finden nur 5 Prozent der Gütertransporte statt. Der Inselstaat setzt mehr auf Schifffahrt und leider auch auf LKWs.

Die Shinkansen-Schnellzüge fahren dagegen auf einem komplett eigenen Netz, weshalb sie ihre Geschwindigkeit komplett ausspielen können und konkurrenzlos pünktlich sind. Japan hat da aber natürlich auch den Vorteil, dass sie ein in sich geschlossenes Netz haben und ihren Verkehr nicht mit anderen Ländern abstimmen müssen. Der komplett inländische Bahnverkehr lässt die Passagierzahlen dafür nochmal eindrucksvoller wirken.

Der öffentliche Personennahverkehr in Tokio wird außerdem sehr akribisch gewartet, wodurch es nur sehr wenig technische Ausfälle gibt.

4.     Gelungene Privatisierung und Bahnhöfe als Zentren

Das gute Streckennetz Japans liegt womöglich aber auch daran, dass Japan 1987 die damals sehr hoch verschuldete Staatsbahn privatisieren ließ. Was bei vielen Deutschen eher negativ behaftet ist, ist in Japan jedoch eine beispiellose Erfolgsgeschichte. Die Privatisierung funktionierte sogar so gut, dass die großen Betreiber auch von sich aus profitabel funktionieren, während Zuschüsse eher an die weniger dicht besiedelten Regionen gehen.

Der große Gewinnfaktor sind dabei weniger die Ticketverkäufe, sondern die Bahnhöfe. Diese können in Zentren sehr groß sein und bieten auch einiges an Shoppingmöglichkeiten und in Japan besonders wichtig: Möglichkeiten zum Essen. Vor allem hier machen die Bahnbetreiber ihr Geld.

Bahnhöfe sind aber generell die Lebensadern Japans, insbesondere Tokios. Auch an kleineren Stationen finden sich immer in der Nähe der Bahnhöfe diverse Restaurants, aber auch fast alles andere, was man im Alltag benötigt. Für uns in Europa ist das nicht so erstaunlich wie für die US-Amerikaner, in denen außerhalb New Yorks eher autozentrische Städte vorherrschen. Trotzdem ist es auch in Tokio nochmal stärker ausgeprägt als wir es kennen.

5.     IC-Karten

IC-Cards (Integrated Circuit Cards) oder auch Smart Cards sind eigentlich die bei uns auch bekannten Chipkarten, wie sie etwa für Ausweise, Kreditkarten oder die elektronische Gesundheitskarte verwendet werden. In Japan nutzt man diese Karten auch für die öffentlichen Verkehrsmitteln. Dafür gibt es an jeder Bahnstation Gates, über die man beim Betreten und Verlassen die Geldbörse mit der Karte oder mittlerweile auch das Smartphone oder Smartwatch zieht. Beim Verlassen wird dann automatisch der passende Betrag abgebucht.

In Tokio nutzt fast jeder eine solche Karte und die Ticket Gates sind auch zu Stoßzeiten kein wirkliches Hindernis, weil alles völlig routiniert abläuft. Hat man nicht genug Guthaben auf der Karte, lässt sich der Restbetrag an einer Maschine ausgleichen. An denselben Maschinen könnt ihr übrigens auch die Differenz zahlen, wenn ihr ein normales Ticket gekauft habt, aber dann doch anders gefahren seid.

Riesige Menschenmassen bewegen sich durch die Bahnhofsgänge in Ikebukuro
Die großen Menschenmassen bewegen sich in japanischen Bahnhöfen wie hier in Ikebukuro vor allem durch ein Netzwerk von Gängen. Dank guter Ausschilderung geht man in der Masse aber nicht verloren. Foto by Stefan Reismann.

Japanische Mentalität ausschlaggebend

Dass der Öffentliche Nahverkehr in Tokio so gut läuft, liegt allerdings nicht nur an den Faktoren, sondern zum Teil auch an der japanischen Mentalität. Es ist einfach angenehmer Bahn zu fahren, wenn alle anderen Mitfahrer entweder still sind oder sich zumindest eher leise unterhalten. Durch das – nicht immer gute – Kollektivdenken behandelt man außerdem öffentlich genutzten Raum pfleglicher. Hier wird einfach nicht rumgeschmiert, zugemüllt oder die Beine auf den Sitz gelegt (allerdings auch schwierig, wenn man nur seitliche Sitzbänke hat). Auch lassen sich in Japan recht rigorose Entscheidungen (etwa gegen den Autoverkehr) einfacher durchboxen, weil die Bevölkerung sehr autoritätshörig ist.

Auch die japanische Arbeitsweise ist perfekt für den Bahnverkehr. Service und Pünktlichkeit ist in Japan ein Selbstverständnis und überträgt sich auch auf die Züge. Diese werden außerdem jeden Tag kontrolliert. Das sorgt allerdings auch dafür, dass selbst wochenends in der Nacht mehrere Stunden keine U-Bahn fährt. Achtet also unbedingt auf die letzten Züge, wenn ihr in Japan unterwegs seid.

Außerdem sind Japaner darauf trainiert, selbst in der Routine penibel auf Einhaltung der Abläufe zu achten. Wenn ihr euch mal wundert, warum japanische Lokführer ständig mit dem Finger auf Dinge zeigen: Das nennt sich Shisa kanko (zeigen und sagen). Dabei werden Arbeitsschritte, auch wenn es der Blick auf bestimmte Instrumente ist, mit dem Finger gezeigt während man den Arbeitsschritt auch ausspricht. Das soll verhindern, dass man etwas vergisst, bewahrt zudem die allgemeine Konzentration und macht schneller auf Situationen außerhalb der normalen Abläufe aufmerksam. Die Arbeitsweise hat in der japanischen Bahnfahrt ihren Ursprung, ist mittlerweile aber in vielen Industrien verbreitet.

Der öffentliche Personennahverkehr in Tokio ist auch nicht perfekt

Perfekt ist auch der öffentliche Personennahverkehr in Tokio nicht. Das betrifft nicht nur die Nachtruhe an Wochenenden, sondern auch viele andere kleine Bereiche.

Denn auch wenn Tokio über ein wirklich stark ausgebautes Netz verfügt, sind die Züge zu Stoßzeiten schon oft unangenehm voll. Da wird der Weg zur Arbeit schnell vergleichbar mit vollen Bahnen zu einem Fußballspiel bei uns – nur mit deutlich mehr Ruhe. Die Bahnen werden hier richtig vollgequetscht. Hier spielt erneut die Mentalität der Japaner rein, andere nicht zu stören, aber selbst auch viel Unannehmlichkeit zu schlucken. Dasselbe gilt auch für Personal im Allgemeinen, die viel Arbeit bei oft nicht so hoher Bezahlung verrichten.

Ebenso ein Problem in volle Zügen: Grapscher und ungewollte Fotos. Auch wenn Japan ein an sich extrem sicheres Land ist, hat es ein Problem mit sexueller Belästigung. Diese wird oft nie angezeigt, weil viele Japanerinnen denken dass es ihre Familie entehrt, wenn bekannt wird, dass man sexuell belästigt wurde. Dennoch wurde bereits mit Maßnahmen gegen gesteuert. So lösen japanische Handykameras mit einem klassischen Kamera-Knipsgeräusch aus und es gibt teils auch extra Waggons für Frauen zu Stoßzeiten.

Die unterschiedlichen Bahnbetreiber können außerdem manchmal zu weiten Wegen beim Umstieg führen, weil die Betreiber oft ihre eigenen Stationen innerhalb der Station haben. Oft gibt es aber unterirdische Wege, die euch zu den teils sogar mehrere hundert Meter entfernten Nachbarstationen bringen. Der betriebsamste Bahnhof der Welt in Shinjuku ist auch weniger eine riesige Halle als Zusammenschluss mehrerer Bahnhöfe in einem riesigen Netzwerk mit über 200 Ein- und Ausgängen.

Eine Herausforderung für die Zukunft könnte das Homeoffice sein. Sollte sich das in Japan stärker etablieren, könnte es sich stark auf das Fahrgastaufkommen auswirken. Bereits in der Pandemie wurde bei einigen Linien mit einer Reduzierung der Züge reagiert. 

ein langer Verbindungsgang verbindet unterirdisch zwei die Plattformen zweier Bahnlinien
Die Plattformen der verschiedenen Linien liegen manchmal sehr weit auseinander. Zumindest gibt es meist unterirdisch direkte Verbindungsgänge. Foto by Stefan Reismann.

Fazit: Der öffentliche Personennahverkehr in Tokio lässt sich nicht einfach kopieren

Auch wenn der Öffentliche Nahverkehr in Tokio ein Vorzeigemodell für viele Länder ist, lässt sich das Erfolgsrezept nicht so einfach kopieren. Es ist in vielen Bereichen das Resultat japanischer Mentalität, aber auch nationaler Umstände. Zusammen mit viel Neu- und Wiederaufbau in Tokio, ist das Bahnnetz außerdem zu fest in die Stadt zementierten Lebenslinien geworden.

Die wichtigste Erkenntnis für andere Städte muss jedoch sein: Wenn ihr die öffentlichen Verkehrsmittel stärken wollt, müsst ihr das Auto unattraktiv machen. Japan, insbesondere Tokio, hat viele Maßnahmen ergriffen, damit das Auto vor allem für den Verkehr in und aus den Ballungsgebieten möglichst unattraktiv und vor allem teuer ist.

Die Bahn ist in Tokio günstiger als das Auto und zudem in der Regel auch die schnellere Variante, um von A nach B zu kommen. Als Alternative zum unattraktiven PKW steht aber auch ein exzellentes Schienennetz zur Verfügung, welches extrem zuverlässig ist. Ihr bekommt meist problemlos eure Anschlüsse und selbst wenn ihr einen Zug verpasst, lässt der nächste nicht lange auf sich warten. Die Ticket Gates sorgen zudem dafür, dass nur Fahrgäste mit Ticket oder IC-Karte zu den Gleisen kommen, was Kontrollen im Zug unnötig macht.

Wichtig ist es allerdings, Japan nicht einfach zu kopieren, sondern die Erkenntnisse clever auf das eigene Land anzuwenden. So ist etwa das 49 Euro-Ticket ein sehr guter Ansatz, um den Schienenverkehr attraktiver zu machen. Das deutsche Schienennetz und die Züge sind aber noch immer in einem desolaten Zustand. Das bringt Deutschland zugleich in die Zwickmühle, dass man den Autoverkehr nicht ganz so einfach teurer machen kann. Viele Pendler sind darauf angewiesen, wenn der Bus zur nächsten Bahnstation nur 3-mal am Tag fährt. Auf der anderen Seite würde ein Mautsystem wieder den Autoverkehr mindern und zugleich einen neuen Geldtopf für die Sanierung von Straßen und Brücken bieten, womit der Staat mehr Gelder hätte, um den Ausbau des Bahnnetzes voranzutreiben. 


Image by Stefan Reismann


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