Die neue Agentur für Sprunginnovationen soll die Innovationsdynamik in Deutschland verstärken und möglichst auf ein Niveau heben, das mit dem Turbokapitalismus des Silicon Valley mithalten kann – aber ohne Systemveränderung.
Das Silicon Valley ist dem politisch Handelnden und Agentur-Gründungsdirektor Rafael Laguna de la Vera suspekt: „Diese turbokapitalistischen Silicon-Valley-Systeme wollen ja auch den Staat gleich mit ersetzen. Unsere europäisch-humanistische Antwort darauf sollte sein: Aber bitte schön noch im System. In diesem Kontext kann man aber ganz doll sprunginnovieren – zum Beispiel die turbo-kapitalistischen Plattform-Geschäftsmodelle, die auf Monopolisierung ausgerichtet sind. Lasst uns doch mal die disruptieren und den Wohlstand aus den Monopolen umverteilen, das wäre doch viel cooler“, so Laguna im Interview mit Technology Review.
Innovationen und der europäische Humanismus
Das sei nach Ansicht von Professor Frank H. Witt nicht unsympathisch und Vieles scheint richtig. Ein erfahrener Gründungsdirektor und immerhin eine Milliarde Euro an Finanzmitteln könnten schon eine Hebelwirkung auslösen. Die Unterstützung durch Business Angels und die Bereitstellung einer GmbH im Besitz der Agentur sollen ein problem- und angstfreies Gründen und Wachsen für die Innovatoren mit potentiell disruptiven Ideen ermöglichen. Adressiert werden Forschungseinrichtungen, Universitäten und Unternehmen. Kann das funktionieren?
„Das übergreifende Paradigma moderner empirischer Wissenschaften besagt, dass sich alle Prozesse, physikalische, chemische, biologische, psychische und soziale, wesentlich als Daten darstellen und durch Algorithmen abbilden lassen. Die Biowissenschaften haben Leben bereits als basierend auf Code DNA und DNA-Replikation definiert, Neurowissenschaften und Computer Science konvergieren beim Machine Learning, der bisher erfolgreichsten und folgenreichsten Basistechnologie für Künstliche Intelligenz, auf der sowohl die Silicon Valley-Version von Geschäftsmodellen, Internet und Gesellschaft der Zukunft beruhen, als auch die chinesische Version. Mit Europäischem Humanismus hat das alles leider nicht viel zu tun“, erläutert Witt.
Daher brauche die Innovationsdynamik der Gegenwart und Zukunft neue Konzepte. Eine staatliche Innovationsagentur sollte hier konkreter werden, fordert Witt, der das Thema auf der Next Economy Open am 27. November vertiefen wird.
Marc Wagner, Analyst der Detecon und China-Experte, ist der Meinung, dass wir in Europa und gerade in Deutschland die Chance haben, eine Alternative oder eine Art dritten Weg zu bieten. „Der Staat sollte hier definitiv eine entscheidende Rolle spielen und in disruptive Innovationen investieren und ein geeignetes Umfeld für Innovationen bieten. Zudem gilt es, einen engen Schulterschluss aus Unternehmen, Politik und Bildungseinrichtungen zu erzeugen und das Thema stärker Ende-zu-Ende zu betrachten. Letztlich ist dies eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Dies funktioniert ja gerade in China extrem gut – hier entstehen viele erfolgreiche Unternehmen direkt aus den Universitäten heraus“, so Wagner.
Davon sind wir in Deutschland noch weit entfernt. Einen entscheidenden Nachteil sieht der Detecon-Berater auch in der Risikokapital-Landschaft. Das sollte sich schnellstmöglich ändern. (Gab es eigentlich irgendeine Sprunginnovation, die über das TV-Format Höhle der Löwen hervorgebracht wurde? Kleine Scherzfrage am Rande. Am erfolgreichsten sind da wohl eher Produkte, die sich über Verkaufssender wie QVC verticken lassen).
Über Normmöbel und Kinder-Yoga erschließt man sich nicht neue Welten
Das Thema Sprunginnovationen findet nach Ansicht von Lutz Becker in schwierigen gesellschaftliche Bedingungen statt. „Wenn man in einer Welt aufwächst, in der man wegen des Verkehrs nicht auf der Straße spielen kann und nine to five mit pädagogisch geprüften Spielzeug auf Normmöbeln im Hort verbringt, wenn man von der Schule zum Ballett zum Kinder-Yoga kutschiert wird, um den Urlaub im klimatisierten Club am Pool zu verbringen und in der Schule noch darauf konditioniert wird, Arbeitszettel und standardisierte Test auszufüllen, wird man es schwer haben, sich neue Welten zu erschließen oder sich solchen zu stellen“, so der Studiendekan der Hochschule Fresenius. Toleranz für Ambiguität, also Mehrdeutigkeit, lerne man so jedenfalls noch nicht.
„Wenn junge Menschen aber die Chance haben, durch Ferienjobs, Auslandsaufenthalte oder als Teilnehmer im Bundesfreiwilligendienst in andere Lebenswelten einzutauchen, kann viel positives dabei herauskommen. Ich kenne gefühlt mehr junge Unternehmerinnen und Unternehmen, die mit Start-Ups auf anderen Kontinenten erfolgreich sind, als im wohl behüteten und mikro-regulierten Europa“, erklärt Becker.
Kann der Staat innovative Ideen groß herausbringen?
Nach Einschätzung von Julian Kawohl ist nicht ganz klar, warum eine staatliche Planwirtschaft für Innovationen besser funktionieren sollte als Venture Capital. „Ich bin da skeptisch, denn der Vorteil, Ideen groß machen zu können, liegt aufgrund deutlich höherer Erfahrung und Finanzmacht auf der Marktseite. Dazu glaube ich ebenfalls nicht, dass man einen solchen Job in Teilzeit machen kann und sollte. Wenn das Setup steht und Auswahlprozesse, Coaching, Mentoring und dergleichen etabliert sind, dann ist das möglich. Aber gerade zu Beginn ist solch ein Part-Time-Ansatz kritisch, um Strukturen zu etablieren, die nachhaltig sind und für sich funktionieren, wenn hier überhaupt was rauskommen soll“, so Kawohl, Professor an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin.
Gegen Bedenkenträger und Schonimmergewußthaber durchsetzen
Ob sich Innovationen überhaupt fördern lassen, ist eine der großen Fragen. „Da wurde schon eine Menge Geld ausgegeben, ohne das sich der Erfolg des Investments wirklich klären konnte“, so der Unternehmer Gabriel Fehrenbach. Der Agentur gibt er drei Punkte auf den Weg:
„Die innere Freiheit über den Tellerrand zu schauen, ganz neu zu denken und Verbindungen zu sehen, die vorher niemand gesehen hat. Den Mut, nicht nur aus dem bisherigen Denken auszubrechen, sondern seine Sicht auch gegen Bedenkenträger und Schonimmergewußthaber zu vertreten. Und die Ausdauer, dabei zu bleiben, immer wieder neu anzufangen und sich selbst zu vertrauen. Geld und staatliche Strukturen zählen nicht dazu. Denn sie ziehen allzuoft den Fokus vom Wesentlichen ab.“
Johannes Stock, Global Head of Design bei Futurice, sieht das größte Potential bei der Förderung von radikaler und riskanter Innovationsarbeit: „Nach unserer Erfahrung ist es nicht der Mangel an guten Ideen, an denen bahnbrechende Innovationen scheitern. Es fehlt an der Risikobereitschaft.“
Damit das gelingt, sei ein gutes Zusammenspiel der verschiedenen Akteure aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik entscheidend. Das zeigt ja das häufig zitierte Beispiel MP3 sehr gut: Eine Erfindung selbst ist noch keine Innovation. Erst wenn die neue technische Möglichkeit aus dem Blickwinkel eines echten Nutzens für Kunden betrachtet und weiterentwickelt wird, entsteht daraus ein echter Wert. Die Agentur sollte also nicht bei der Förderung technologischer Neuerungen stehen bleiben, sondern den besten Ideen auch zum Durchbruch in neuen wie alten Märkten verhelfen, etwa bei der Verfügbarkeit und Sicherheit von Daten. Und hier könnte das deutsche und europäische Konzept smarter sein, indem es von Anfang an Innovation als Wertschöpfung in einem Ökosystem sieht, statt einseitig nur von der Technologie her zu denken.“
Radikal neue Ideen
Eine staatliche Innovationsförderung könne dann als Katalysator radikal neuer Ideen wirken, wenn sie mit falschen Erwartungen aufräumt und dem Wunsch nach schnellen Ergebnissen eine klare Absage erteilt. Der Staat habe hier einen längeren Atem als andere Akteure und sollte das auch nutzen. „Das hätte eine schöne, optimistische Signalwirkung für den Glauben an die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands und Europas“, so Stock, der auf mehr als zehn Jahre Design-Erfahrung zurückblickt, in denen er mit Marken wie Porsche, Daimler, Audi, BMW, Deutsche Telekom, eBay, ThyssenKrupp, Hugo Boss, BMW und Vodafone zusammengearbeitet hat.
Frei nach Ginni Rometty „Growth and comfort do not coexist“ werden Sprunginnovationen nach Analysen von Andrea Martin wohl nur klappen, wenn man bereit ist, die bestehenden Abläufe und Geschäftsordnungen zu hinterfragen und auch radikal zu ändern. Das gelte für alle Akteure im staatlichen, privaten und wissenschaftlichen Sektor. Sprunginnovationen ohne Mut werden nicht funktionieren: „Zuerst auf die Risiken zu schauen und was alles schiefgehen könnte, wäre der ‚Killer‘ für Sprunginnovation“, so Martin, Leiterin des Watson IoT Center von IBM in München und Mitglied der Enquete Kommission des Bundestages für Künstliche Intelligenz.
Der transformative Kampf für das Bessere
Nicht zu vernachlässigen sind bei Sprunginnovationen die sozialen und kulturellen Faktoren. Wer sich bei Innovationen auf Joseph Schumpeter beruft, sollte dabei nicht die Arbeiten des österreichischen Wirtschaftswissenschaftler über die Erosion des Unternehmertums außer Acht lassen. Erste Akzente setzte er bereits in seiner Zeit an der Bonner Universität im Jahr 1929. Etwa im Aufsatz „Unternehmer in der Volkswirtschaft von heute“: So kritisierte Schumpeter die Mechanisierung und Bürokratisierung in großen Organisationen. Später schrieb er in Anlehnung an Karl Marx über die Folgen der Konzentration und Zentralisation des Kapitals. Wer sich also heute von staatlicher Seite mit Sprunginnovationen beschäftigt, sollte in der Tat Akzente setzen, die sich vom Turbokapitalismus des Silicon Valley und vom Überwachungskapitalismus in China absetzen.
Professor Reinhard Pfriem bringt Neugründungen ins Spiel, die die Welt wirklich besser machen. Nicht nur marktschreierisch, wie es Google & Co. im Gebetsmühlen-Jargon betonen. Pfriem setzt auf Social und Sustainable Entrepreneurship. Transformative Unternehmen sollten nicht-nachhaltiges Wirtschaften aus der Welt schaffen. Automobilindustrie, Energiewirtschaft und auch die Ernährungs- und Landwirtschaft verweigern sich, hier die nötigen schöpferischen Zerstörungen durchzuführen. „Das Zerstörerische muss zerstört werden, bessere additive Technologien reichen nicht aus“, kritisiert Pfriem. Diesem transformativen Kampf sollte sich auch die Agentur für Sprunginnovationen stellen.
Schließlich beruht die Schumpetersche Innovationstheorie nicht nur auf Technologie. Darauf verweist Lars Immerthal. Die Arbeiten von Schumpeter seien tief in der europäischen Kultur verwurzelt. „Wer bei Schumpeter danach fragt, wird beispielsweise Nietzsche, Hölderlin oder Hegel finden, wenn er/sie sich mit der schöpferischen Zerstörung oder Kondratjew Zyklen auseinandersetzt. AlsonPhilosophie und Literatur als Referenz. Der Begriff Disruption, so wie ihn Christensen nutzt, führt diese Fähigkeit nicht mit sich und fällt hinter Schumpeters Begriff der Innovation sogar zurück. Wenn wir also Träume, Poesie und Kunst als Basis unserer Imagination begreifen, dann kann etwas Wunderbares daraus entstehen. Sowohl theoretisch als auch ganz praktisch.“ Wir haben diese Form des Denkens, Handelns und Kommunizierens schon lange in unserer Kultur. „Und noch nie war die Gelegenheit und auch die Notwendigkeit größer, Mathe und Poesie, KI und Philosophie oder Open Source und soziale Verantwortung zusammen zu denken“, resümiert der Schumpeter-Forscher Immerthal.
Weitere Anregungen erhält Gründungsdirektor der Agentur für Sprunginnovationen auf dem Schumpeter-Abend in Bonn. Man hört, sieht und streamt sich zu einem wichtigen Zukunftsthema.
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Schlagwörter: Gunnar Sohn, Innovation, Kolumne, Schumpeter, Sprunginnovationen