California Dreaming: Lasst uns eine bessere Arbeitswelt bauen

Im Laufe des letzten Monats durfte ich an verschiedenen Initiativen teilhaben, die sich mit der Zukunft der Arbeit beschäftigten. In Kalifornien denkt man (natürlich) am proaktivsten. Kalifornische und sonstige Libertarians zerschlagen skrupellos und egoistisch unseren hart erkämpften Sozialstaat mit ihren digitalen Angeboten, so das weit verbreitete Urteil hieisiger Kommentatoren. Aber stimmt das eigentlich? Ich habe mir ein Bild gemacht, auf der Next:Economy-Konferenz in San Francisco.

Visionen nur ein Krankheitsbild?

Jeder kennt das Bonmot von Helmut Schmidt, er solle mit seinen Visionen doch bitte zum Arzt gehen. So war das damals in hiesigen Diskursen: Ein Bonmot zählte mehr im alltäglichen Schlagabtausch als ein zeitlicher Blick über den Tellerrand. Im Grunde verhält es sich so bis heute – wir segeln gerne im Nebel auf Sicht.

Doch nun geschieht ausserhalb unseres Sichtfeldes Ungeheuerliches: Die Welt ändert sich derzeit so radikal – nicht zuletzt aufgrund der Digitalisierung. Sie schafft einerseits bessere Gesundheitsbedingungen, sauberere Energie und auch neue Bildungschancen. Und das resultiert andererseits in einer Neuordnung der Machtverhältnisse und damit in massiven sozialen Verwerfungen, wie wir sie aktuell in den Nachrichten verfolgen können. Die Welt wird derzeit einmal umgekrempelt und so, wie wir sie uns bislang organisiert haben, funktioniert sie einfach nicht mehr.

In der Folge wirkt sich das auch auf Personen in hiesigen Breitengraden aus. Die Zeiten der identitätsstiftenden Arbeit scheinen vorbei. Das alte Berufsethos verschwindet, die alten Jobs auch – und Eliten in Wirtschaft und Politik sind schlichtweg überfordert. Das ist in Übersee nicht anders als hier, wobei das kulturelle Mindset schon ein wenig anders gelagert ist. Die Digitalisierung entfaltet ihre disruptiven Potenziale auch auf dem globalen Arbeitsmarkt.

Zwar sammelt sich in Deutschland unter den Stichwörtern “Arbeiten 4.0” und “New Work” gerade eine Gruppe an Beratern, Coaches, Journalisten und einigen wenigen Aktivist_innen, um Unternehmen und den Rest der Gesellschaft in Richtung Digitalisierung zu schieben. In den USA dagegen scheint der Diskurs der Netzwerkgesellschaft eher von den Visionen der Startup-Ökonomie geprägt zu sein, erst dann gefolgt von einigen ThinkTanks und Aktivisten, die sehr unterschiedliche Agenden verfolgen.

Marktplätze statt Pädagogik

Dabei sind sie “drüben” im Vorteil: Während “wir hier” gerne über die verlorene, gute Zeit sinnieren, hat man “dort” längst akzeptiert, dass neue Zeiten angebrochen sind. Es gelte jetzt, diese konstruktiv zu gestalten. Denn die Entwicklungen schreiten voran – und daraus ergeben sich neue Fragen:

  • Warum über die Geschäftspraktiken von Uber lamentieren, wenn es absehbar erscheint, dass schon in sehr naher Zukunft selbstfahrende Autos das Geschäft kundenfreundlicher UND ökologischer übernehmen?

  • Warum über eine Modernisierung traditioneller Ausbildung sinnieren, wenn vielfältige Marktplätze ein weit perfekteres Matching von Talenten und aktuellen Anforderungen ermöglichen?

  • Warum nicht die negativen kapitalistischen Wucherungen markieren, wenn die Digitalisierung doch so viele Potenziale bereit hält, bisherige Unzulänglichkeiten zu überwinden?

  • Warum nicht die Welt besser machen, anstatt sie nur für das persönliche Profil zu instrumentalisieren?

Dies ein Auszug der Sichtweisen einer positiven Techno-Elite in den USA, die die Gesellschaft vor sich hertreibt und entsprechende Anwendungen sehr userfreundlich entwickelt. (Dazu schneit gerade der Brief von Mark Zuckerberg an seine neu geborene Tochter rein. Man reibt sich die Augen und mag es kaum glauben, wie positiv er die Welt darstellt, die er mit gestalten möchte. Wäre er nicht Mark Zuckerberg, würde man ihm Naivität zuschreiben. So hält man diese ihn antreibende Vision zumindest für eine mögliche Realität.)

Nun will ich hier nichts verklären. “Da drüben” ist bei weitem nicht alles in Ordnung. Genau genommen in der Sozialpolitik eigentlich kaum etwas. Und entsprechend schreien auch in den USA nicht alle: “Hurra!”

Aber die digitalen Entwicklungen brechen sich dennoch (oder gerade deshalb) marktradikaler ihre Bahn, weil die Angebote einer radikalen User Experience folgen. Was die Angebote gleichzeitig umso attraktiver macht. Wenn in neoliberalen Zeiten jeder zusehen muss, sein Einkommen wie auch immer am Markt zu generieren, so ist man zähneknischend froh um jede Option, die es einem ermöglicht, eben möglichst lebensnah neues Einkommen zu generieren.

Erst nachgelagert stellt sich dann die Frage, wie man Gesellschaft in diesen Zeiten organisieren will. Zumal davon auszugehen ist, dass durch die Digitalisierung und, in der Folge, der Automatisierung die gesellschaftliche Spreizung noch weit absurdere Züge annnehmen wird, als sie eh schon ist.

Grafik

Aber diese Entwicklung missfällt auch den Technologist_innen, die auf dem Podium der Next:Economy-Konferenz in San Francisco reihenweise aufliefen.

buch

So wurde z.B. das neue Buch von Joseph Stieglitz kostenfrei an alle Konferenz-Teilnehmer_innen verteilt.

Darin ein engagierter Appell an die US-amerikanische Politik, den Verteilungskampf weg von den 1% und hin zu den 99% zu forcieren, weil andernfalls eine fundamentale Spaltung entstünde, die keiner Wirtschaft mittelfristig zugute käme.

Hier spricht indirekt der alte Keynes, denn auch als Millionär macht es wenig Sinn, sich pro Jahr mehr als 10 Hosen zu kaufen, wie es der Trillionär Nick Hanauer einmal ausdrückte. Irgendwann hat man einfach alles. Da würde es in der “Marktwirtschaft” schon Sinn machen, das Geld auf die breite Masse zu verteilen, damit auch sie sich wenigstens 1-2 Hosen pro Jahr leisten könnten, um das Geld im Umlauf zu halten.

Entsprechend laut dann auch die Forderungen auf der Konferenz, den Marktkräften sozialpolitisch entschiedener entgegen zu treten, um sozialem Unfrieden vorzubeugen und eine gerechtere Verteilung der Chancen einer digitalen Ökonomie zu ermöglichen.

Alles nur Marketing?

Nun stellt sich die Frage: Ist dies alles nur ein Feigenblatt der Libertarians? Mein Eindruck auf der Konferenz: Nein, bei diesen nicht! Während ich in Deutschland bei vielen Startups die Dollarzeichen oder den persönlichen Karrierepfad in den Augen sehe, nehme ich vielen Digital-Unternehmern in den USA ihre Mission ab.

Ja, überhaupt scheint die persönliche Mission eines der zentralen Antriebe dortiger Aktivitäten zu sein. Vielleicht nicht im altruistischen Sinne, wie wir es hier gerne sehen. Vielmehr folgt dort die Argumentation einer ökonomischen Vernunft und sicherlich den Nachbeben der protestantischen Ethik, wie sie Max Weber seinerzeit so fulminant beschrieb.

Die Unternehmer_innen sind womöglich die Letzten, die noch einer persönlichen Berufung nachgehen. Sie scheinen wie getrieben. Sie präsentieren sich entsprechend auch weniger als Unternehmer_in, denn als konstruktive Problemlöser mit einer klaren User-Orientierung. Die Probleme der “User” sind die zentrale Achse, um die sich die eigenen Angebote drehen.

Und es wirkt wirklich sehr ernsthaft! Ich habe bei diesen erfolgreichen Digital-Unternehmern selten das Gefühl, der spätere, womögliche Gewinn sei die zentrale Triebfeder. Nein, man entwickelt „einfach“ Angebote, die nachhaltig und mit stetiger Lernkurve den multiplen Interessen verschiedener Zielgruppen zeitgemäss nachkommen, sie in einen halbwegs fairen Ausgleich bringen.

Dabei meine ich nicht die durchaus auch kritisch zu betrachtenden Charity-Angebote, sondern ich sehe dort jede Menge Online-Marktplätze auf Big-Data-Basis entstehen, die meines Erachtens schon eine Weiterentwicklung zu den Top-Down-Angeboten alter Provenience darstellen. Klar bewegen wir uns hier weiterhin innerhalb des Kapitalismus – das wird nun wahrlich “dort“ nicht in Frage gestellt.

Und so mag ich derzeit nicht in den typisch deutschen Zynismus verfallen, der alles besser weiss, aber kaum mehr als Symbolpolitik hinbekommt. Statt dessen hoffe ich auf die längerfristige Wirkung der visionären Kraft, die ich dort mitunter spürte. Und fahnde nach meiner eigenen Vision.

Derweil beuge ich mich weiter über meine Notizen der Konferenz, diskutiere und sammle weitere Eindrücke, um daraus das Fundament für den #A40MOOC zu entwickeln. Aus den Reflexionen dieser sehr unterschiedlichen Initiativen rund um die Zukunft der Arbeit (und Ökonomie) bereiten wir nämlich einen Massive Open Online Course zum Thema Arbeit 4.0 vor, der im Frühjahr 2016 kostenfrei auf mooin, der MOOC-Umgebung der FH Lübeck, läuft.

Ihr könnt euch jetzt bereits anmelden. Stay tuned!


Teaser & Image by Anja C. Wagner


CHIEF-EDITOR’S NOTE: Wenn Ihnen unsere Arbeit etwas wert ist, zeigen Sie es uns bitte auf Flattr oder indem Sie unsere Reichweite auf Twitter, Facebook, Google+, Soundcloud, Slideshare, YouTube und/oder Instagram erhöhen. Vielen Dank. – Tobias Schwarz

beschäftigt sich mit globaler Transformation im digitalen Wandel. Sie gilt als kreative Trendsetterin und bezeichnet sich selbst als Bildungsquerulantin. Inhaltlich beschäftigt sie sich mit User Experience, Bildungspolitik, Arbeitsorganisation und unserer Zukunft in einer vernetzten Gesellschaft. Mit dem Unternehmen FrolleinFlow GbR bietet sie heute Studien, Vorträge, Consulting und verschiedene Online-Projekte an. ununi.TV ist eines dieser Online-Projekte. Mitglied des Netzpiloten Blogger Networks.


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