379 Minuten. So viel Zeit verbringen Deutsche im Schnitt pro Tag vor ihren Bildschirmen. Von Fernseher bis Smartphone, von den beruflichen E-Mails bis zum privaten WhatsApp-Chat: Ein großer Teil unseres Lebens spielt sich um einen kleinen eckigen Kasten ab. Da ist es vielleicht nicht verwunderlich, dass sich Menschen nach mehr Offline-Zeit sehnen, in der sie anderen im echten, physischen Leben begegnen, IRL sozusagen. Offline ist das neue Online. Pfiffige Unternehmen greifen diesen Wunsch auf – und bilden darum ein Geschäftsmodell.
Malen und trinken: Das neue Erfolgsmodell
Eins dieser Unternehmen heißt Artnight, kommt aus Berlin und wurde von Aimie-Sarah Henze und David Neisinger 2016 gegründet. Die beiden Gründer bringen Künstler und malwillige Großstädter in Bars und Restaurants zusammen. Den Abend gemeinsam ausklingen lassen, etwas Künstlerisches selbst schaffen und dabei andere Menschen kennen lernen sind die drei Grundpfeiler von Artnight. Ein Konzept, das ursprünglich aus den USA kommt und dort unter Namen wie „uptown art“, „painting party“ oder „paint & cocktails“ rasch zum Erfolgsschlager wurde. Das Trink-und-Mal-Prinzip ist zum wahren Boom-Business geworden. Das Start-up „Paint Night“ ist sogar auf dem zweiten Platz der Inc. 5000 Liste der am schnellsten wachsenden privaten Unternehmen in den USA.
Artnight ist nun der Versuch, das Modell in Europa einzuführen. Dabei stand allerdings nicht allein die Geschäftsidee im Vordergrund, sondern auch das Liebesleben von Mitgründer David Neisinger. „David ist wirklich sehr romantisch und denkt sich immer etwas Besonderes für seine Dates aus. So ist er auf die Malevents gestoßen und wir fanden die Idee dann so gut, dass wir daraus ein Unternehmen gemacht haben“, erzählt Aimie-Sarah Henze im Gespräch mit den Netzpiloten. Ganz so einfach war die Umsetzung dann aber doch nicht. Denn während die Amerikaner hauptsächlich zusammenkommen, um (viel) zu trinken und sich von einem Entertainer unterhalten zu lassen, haben deutsche Artnight-Besucher einen künstlerischen Anspruch. „Wir haben es am Anfang auch mit einem Unterhalter probiert. Doch wenn es dann hieß, ‚jetzt halten wir alle zusammen den Pinsel in die Höhe‘, fanden das die meisten das sehr merkwürdig“, erinnert sich Henze.
Events sind für Künstler Gold wert
Also wurde umgestellt: Die Events finden immer noch in Bars und Restaurants statt und getrunken wird auch, allerdings steht die Kunst im Vordergrund. Dafür hat Artnight aktuell 47 Künstler rekrutiert und stellt den Teilnehmern hochwertige Materialien zur Verfügung. Der Rest passiert dann von allein, der Spaß entsteht automatisch durch das Zusammensein und das Malen.„Es ist sehr erfüllend zu sehen, wie viel Spaß die Teilnehmer haben und welch schöne Momente durch das gemeinsame Malen entstehen“, sagt Verena Bonath, eine der Künstlerinnen, die seit den Anfängen von Artnight mit dabei ist.
Die Studentin an der Universität der Künste Berlin hatte sich gleich beworben, als sie von Artnight hörte. Denn die Künstler durchlaufen einen Bewerbungsprozess, um die Qualität der Kunstwerke für die Teilnehmer zu garantieren, aber auch, um sicherzugehen, dass sie zum Konzept passen. Genau deswegen wurden schon einige Bewerber abgelehnt: „Uns geht es natürlich auch darum, den Teilnehmern eine tolle Erfahrung zu bieten und die Künstler müssen schon sehr extrovertiert und kommunikativ sein“, sagt Aimie-Sarah Henze. So erhalten die Künstler nach jeder Artnight Feedback von den Teilnehmern. Wer besonders gut ankommt, steigt auf der Artnight-Skala auf und kann entsprechend mehr verdienen. Ein Künstler kann so 300 Euro oder sogar mehr pro Abend verdienen.
Für Studenten wie Verena Bonath ist dies natürlich ein willkommener Nebeneffekt. Anstatt einen Nebenjob in einer Bar zu haben, wie viele ihrer Kommilitonnen, arbeitet sie künstlerisch und kann viele wichtige Kontakte knüpfen. „Ich habe durch die Teilnehmer auf den Artnights einige neue Aufträge bekommen“, erzählt sie. „Für Künstler sind solche Events natürlich Gold wert, da andere Menschen uns und unsere Arbeit in Natura kennen lernen können.“ Die Netzwerke, die sie auf den Artnight-Veranstaltungen knüpfen kann, sind für Bonath viel hilfreicher als die eigenen Bilder im Internet hochzuladen, sei es auf Kunstplattformen oder Instagram.
Als Erwachsene das Malen wieder lernen
Doch nicht nur die Künstler profitieren von den Malevents, auch die Teilnehmer kehren immer wieder. Pro Woche veranstaltet das Berliner Startup etwa 15 Artnights in 25 verschiedenen deutschen Großstädten. Pro Artnight sind im Schnitt 20 Teilnehmer dabei.
Das Konzept ist offensichtlich so erfolgreich, dass Artnight demnächst nach Österreich expandieren wird. Weitere europäische Städte sollen folgen. Das Erfolgsrezept ist sicherlich nicht nur das Malen, sondern das zwanglose Zusammenkommen mit anderen Menschen. „Wenn die Teilnehmer gemeinsam malen, haben sie natürlich auch direkt ein Gesprächsthema. So können sie sich schnell kennenlernen und neue Kontakte knüpfen.“ Einige Romanzen sollen auch schon daraus entstanden sein. Die Teilnehmer sind überwiegend weiblich und die meisten sind im Alter zwischen 30 und 40 Jahren, was auch sicherlich etwas mit dem Eintrittspreis von rund 35 Euro pro Person zu tun hat. Es kommen aber auch Familien mit Kindern, ältere Paare und jüngere Malbegeisterte zu den Events. Mittlerweile scheint sich die Artnight auch unter Single-Männern herumgesprochen zu haben.
Rund zwei Stunden dauert eine Artnight und am Ende nehmen die Teilnehmer ein eigenes Bild mit nach Hause. Dabei ist es wichtig, dass sich die Künstler gute Konzepte überlegen und den Teilnehmern mit einigen Tricks dabei helfen, Kunstwerke wie zum Beispiel im Stil von Frida Kahlo zu kopieren. Auch wenn viele anfangs Angst haben, etwas falsch zu machen, trauen sich die meisten dann doch an die Palette und die Leinwand heran. „Das ist schon interessant, wie wir als Kinder so viel malen und dies dann nach unserer Kindheit komplett aufgeben“, sagt Verena Bonath. Sie ermutigt ihre Teilnehmer daher immer wieder, es einfach auszuprobieren. Die meisten entdecken dabei, wie viel Spaß es ihnen macht, abseits von Bildschirmen und virtuellen Welten, auch mit ihren Händen und greifbaren Materialien zu arbeiten. Am Ende steht meist ein großes Erfolgserlebnis für die Teilnehmer. Das ist natürlich auch fürs Geschäft wichtig. Schließlich kann ein solches Event nicht langfristig erfolgreich sein, wenn die Teilnehmer sich überfordert fühlen.
Kritik: Kunst wird kommerzialisiert
Neben den Künstlern und den Artnight-Besuchern profitieren auch die lokalen Restaurants und Bars von dem Konzept. Denn die Artnights werden bewusst zu Zeiten geplant, in denen die Räumlichkeiten nur mäßig gefüllt sind. So können Restaurants und Bars auch an sonst eher langsamen Abenden gute Gewinne einfahren.
Gründer, Künstler, Teilnehmer und Bars – die Malevents scheinen tatsächlich ein Win-Win-Win-Win-Modell zu sein. Doch nicht alle stehen dem Konzept positiv gegenüber. Vor allem aus der Künstlerszene kommt harsche Kritik. Unternehmen wie Artnight machen aus der Kunst ein Geschäft, Künstler verkaufen sich, die Kunst wird kommerzialisiert – solche Vorwürfe hat Verena Bonath schon oft gehört. „Bei vielen Kollegen ist die Idee, dass man sich als Künstler so nahbar macht, eher verpönt. Dahinter steckt die Idee, dass wir uns eine gewisse Mystik bewahren müssen, damit wir geschätzt werden. Ich finde das ziemlich blöd. Wieso ist meine Kunst weniger wert oder schlechter, wenn ich anderen dabei helfe, sich mehr mit Kunst zu beschäftigen?“ Auch Aimie-Sarah Henze kann die Kritik nicht nachvollziehen. „Kunst ist etwas sehr Subjektives„, sagt sie dazu, „wir möchten uns gar kein Urteil erlauben, was Kunst ist und was nicht. Uns geht es in erster Linie darum, dass Erwachsene zusammenkommen, kreativ sind und am Ende etwas Schönes erlebt haben. Ob man das jetzt nun Kunst nennen möchte oder nicht, ist uns egal.“
Teaser (adapted) & Images by Artnight
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Schlagwörter: Aimie-Sarah Henze, artnight, David Neisinger, großstädte, Kultur, Kunst, Menschlichkeit, offline, startup
1 comment
Ich finde die Idee schon gut, werde aber nicht hingehen, denn mir passt der Ton von Artnight nicht (soll wohl locker klingen, kommt für mich aber unseriös rüber). Dann lieber zur örtlichen Volkshochdchule, wo nicht alle so suf hip machen