Paul Lamere vom Datendienstleister The Echo Nest erklärte auf der Berlin Music Week die Rechentricks hinter Spotify & Co. Wie geht es weiter? Eine für Musikstreamingdienste entscheidende Frage. Denn wie anregend sie ihr Angebot aufstellen und wie sicher ihre Funktionen den Geschmack der Hörer treffen, desto besser ist das Hörerlebnis. Ermöglicht wird dies durch Big Data und Leute wie den Softwareentwickler Paul Lamere, der letzte Woche bei der Berlin Music Week zu Gast war. Hier erklärte er, woher die „ähnlichen Künstler“ kommen, was unser Hörverhalten über uns aussagt und warum ein rein algorithmenbasierter Musik-Player ganz ohne Buttons realistisch ist. Ob dieser allerdings zu erwünschen wäre, ist eine andere Frage.
Millionen Songs, Milliarden Daten – und vier Kategorien
Können Sie sich noch an die C60-Kompaktkassette erinnern? Paul Lamere kann es und so beginnt sein zwei C60-Seiten langer Vortrag „Data Mining Music“ auch mit dem Sony Walkman von 1979. Das arme Relikt muss als Vergleichsobjekt für die heutige Zeit herhalten und verliert gegenüber den 30 Millionen Songs, die wir heute dank Streaming-App auf dem Smartphone mit uns herumtragen, natürlich klar. Vorausgesetzt, man hat eine aktive Internetverbindung (oder eben ein paar hundert Songs offline gespeichert).
Für Lamere ist das Tolle daran allerdings nicht das erweiterte Hörvergnügen, sondern die Möglichkeit, das digitale Nutzungsverhalten zu erfassen und auszuwerten. Vorgestellt wird er als Mann mit 30-jähriger Erfahrung im Bereich der Programmierung und Datenauswertung. Aktuell ist der Musik-Hacker und Blogger Leiter der Entwicklungsabteilung von The Echo Nest, einem 2005 gegründeten und in diesem Jahr vom Abostreamingdienst Spotify akquirierten Datendienstleister mit dem leicht drohenden Claim: „We know music…“. Lamere wertet also alle Daten aus, die er rund um die Musik selbst sowie ihre Nutzung und Kontextualisierung ermitteln kann. Es sind eine Menge.
So nutzt Echo Nest bzw. Spotify vier unterschiedliche Kategorien von Musik-Daten: die Meta-Daten, die kulturellen, die Hörerdaten und die akustischen. Über 40 Millionen Songs von über 2,5 Millionen Künstlern will man schon erfasst haben, eingefasst in knapp 10 Millionen Alben und ähnlichen Formaten. Lamere & Co können so ausgeben, welche Titel ein bestimmtes Album enthält oder ob Bandnamen in den letzten Jahren tatsächlich länger geworden sind, wie ein Forennutzer vermutet. (Antwort: Nein.)
Kochen mit Big Data
Viel interessanter ist allerdings, wie man etwa „ähnliche Bands“, also Empfehlungen, ermittelt. Hier kommen die kulturellen Daten ins Spiel. The Echo Nest scannt unzählige kleine und große Musikseiten nach Rezensionen und Artikeln und trennt dort die einzelnen Zuschreibungen der Musik heraus. Eine Band wird so zu einer dichten Tag-Wolke, deren Übereinstimmungsgrad mit anderen Wolken leicht ermittelbar ist. Außerdem konnten so bislang 1.200 Musikgenres extrahiert und in Beziehung gesetzt werden, was Lamere mit einer hübschen Visualisierung verdeutlicht: Dem „Spotify Popcorn“ mit zahlreichen unterschiedlich großen Genre-Blasen.
Dabei kann die Technologie nicht nur Maissnacks, sondern auch ganze Frösche schonend gegart zubereiten. Zumindest heißt eine von Lamere präsentierte Funktion: „Boil the frog„. Sie lässt Nutzer in einer einzigen Playlist ohne allzu große Brüche von einem Künstler zu einem anderen kommen. Der bildliche Frosch, der bei direkten Kontakt mit heißem Wasser sofort aus diesem springen würde, bleibt – dank schrittweiser Erwärmung – nichtsahnend im Kochtopf und Papa Lamere kann so etwa die jugendliche Justin-Bieber-Anhängerin in seinem Haushalt vorsichtig mit Elvis Presley vertraut machen.
Wenn seine Tochter irgendwann zu studieren beginnt, dann hält Paul Lamere auch schon die nächste Überraschung für sie bereit, denn The Echo Nest weiß schon heute, wann sich Studenten welcher Universität schlafen legen. Möglich macht dies die Auswertung der zeitlichen Nutzungsdaten von Usern, die man etwa über in den USA typische Rabattkonten oder IP-Adressen als Studenten einer bestimmten Institution ausweisen kann. Welche Künstler zudem die leidenschaftlichsten, weil am häufigsten ihre Musik hörenden Fans hat (Die Ärzte landen hier international auf Platz vier, die Beatles auf der Zwei, Schlusslicht ist das One-Hit-Wonder Survivor) oder an welchen Stellen Hörer besonders oft einen Song skippen bzw. ausschalten, lässt sich ebenso ermitteln. Stilbrüche oder Intermezzi innerhalb eines Songs erweisen sich da schnell als wenig hilfreich, während hingegen Phil Collins mit dem Einsetzen seines Schlagzeugsolos in „In The Air Tonight“ die Hörer nahezu ausnahmslos zu fesseln weiß.
Naht eine Zukunft der berechenbaren Sichtbarkeit und unsichtbaren Führung?
Wie passend, dass Paul Lamere bereits einen Streamingplayer ohne Play-Button und zugleich endlos spielend, mit nahtlosen Übergängen obendrein, in Aussicht stellen kann. Das Know-How der inhaltlichen Verknüpfung und der technischen Überleitung ist bereits vorhanden, wie er zuvor demonstriert.
Angesichts dieser Voraussetzungen überrascht die kürzliche Rückbesinnung auf menschliche Kuration im Streamingbereich umso mehr, scheint sie doch überflüssig. Doch Paul Lamere verweist im Nachgespräch zum Vortrag auf das bis heute bestehende Vertrauensgefälle zwischen Code und Mensch. Zudem seien auch die Echo-Nest-Funktionen im Prinzip kuratiert, denn er und seine Mitarbeiter stellen die Test- und Kontrollgruppen für neue Skripte schließlich persönlich zusammen.
Doch wie stark beeinflussen die zahlreichen Aus- und Verwertungsmöglichkeiten die Musik selbst? Werden Ästhetiken bald angepasst, um etwa eine höhere Sichtbarkeit durch größere potentielle Gemeinsamkeiten zu erreichen? Er kann sich das vorstellen, sagt aber auch: „Ich selbst würde mir nicht wünschen, dass die 1969er Led Zeppelin auf den psychedelischen Zwischenteil in ‚Whole Lotta Love‘ verzichtet hätten, nur weil an diesem überdurchschnittlich viele Hörer auf Weiter klicken würden.„
Bei all der guten Laune und Zuversicht bleibt die Idee des buttonlosen Players dennoch eine zwiespältige, da anonyme und manipulierbare. Der Dienst könnte die Hörer der nahen Zukunft schließlich immer wieder knapp an den vielleicht wirklich für sie interessanten und zu entdeckenden Inhalten vorbeiführen, ohne dass sie das bemerken würden. Ebenso könnte er alle Nutzer unwissentlich zu Paul Lameres jüngsten Töchtern machen.
Image (adapted) „The Echo Nest Workshop“ by Thomas Bonte (CC BY 2.0)
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Schlagwörter: Berlin Music Week, Big Data, Streamingdienste
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