Geht es um selbstfahrende Autos, bestimmen beispielsweise Elon Musks Tesla oder die Google-Tochter Waymo die Schlagzeilen. Die deutsche Autoindustrie trommelt zwar nicht so laut wie die amerikanischen Tech-Konzerne. Dennoch schraubt und rechnet sie ebenfalls an den Autos der Zukunft. Der Autobauer aus München gibt hier besonders Gas und eröffnet heute ein BMW-Testzentrum für autonomes Fahren. Auf dem Autonomous Driving Campus in Unterschleißheim bei München haben Ingenieure und IT-Spezialisten ein klares Ziel: Bis zum Jahr 2021 wollen die 1.800 Mitarbeiter des Testzentrums ein Fahrzeug des Autonomie-Levels 3 marktreif machen. Damit wird es zumindest teilweise nicht mehr auf einen Fahrer angewiesen sein.
Daten, Daten, Daten: Und an die neuronalen Netze denken
Autos unabhängig von einem Fahrer zu machen, ist vor allem eine Rechenaufgabe. Denn die Fahrzeuge müssen in der Lage sein, das komplexe Geschehen aus ihrer Umgebung zu verarbeiten, richtig zu interpretieren und schnell genug in sinnvolle Handlungen umzusetzen. Die Technologie ist in Form von Prototypen schon da. Doch diese reif für den Alltag zu machen, ist noch eine große Herausforderung.
Daher ist das BMW-Testzentrum für autonomes Fahren vor allem ein riesiges Software-Studio mit angeschlossener Serverfarm. Ingenieure, Datenanalysten und Programmierer werden dort die Sensordaten von zunächst 40, ab nächstem Jahr 80 Testautos auswerten und auf dieser Basis Betriebsprogramme für automatisierte Fahrzeuge entwickeln. Dabei wird die Testflotte nicht nur in Deutschland, sondern auch in den USA, Israel und China zum Einsatz kommen.
Die Messwerte eines vollautomatisierten Entwicklungsfahrzeugs auf Level 4 (siehe Tabelle) sind so umfangreich, dass sie jeden Tag rund 40 typische Laptop-Festplatten zu je einem Terabyte füllen. Bei einem teilweise autonomen Fahrzeug (Level 3) erheben die dutzenden Sensoren im und um das Auto immer noch imposante 16 Terabyte Daten pro Tagestour.
Mit diesen Informationen trainieren die Spezialisten des Autonomous Driving Campus die neuronalen Netze von Computern, deren Algorithmen dereinst so flexibel und spontan wie ein menschlicher Fahrer agieren sollen. Künstliche Intelligenz, die aus Ereignissen maschinell lernt, ist für autonomes Fahren unverzichtbar. Denn mit normaler, streng regelbasierter Software allein wäre ein fahrerloses Auto im modernen Straßenverkehr hoffnungslos überfordert.
2021 soll teilautonomes Modell BMW iNext serienreif sein
Das BMW-Testzentrum für autonomes Fahren ist ein großer, aber nicht der erste Schritt des Unternehmens hin zum selbstfahrenden Gefährt. Bereits 2006 umrundete ein BMW 3er selbstständig den Hockenheimring und seit 2011 werden automatisierte Prototypen von BMW auf der A9 zwischen München und Nürnberg auf der Straße erprobt.
Im Jahr 2014 driftete erstmals ein BMW-Prototyp automatisiert über den Las Vegas Speedway und bewies, dass auch das Fahren im Grenzbereich beherrscht werden kann.
Der nächste Meilenstein soll im Jahr 2021 erfolgen. Dann will BMW zusammen mit Intel, dem Kartenhersteller Here und dem Fahrassistenz-Spezialisten Mobileye das Modell BMW iNext zur verkaufsfertigen Serienreife bringen. Es wird dem Fahrer ermöglichen, zumindest teilweise die Hände vom Steuer zu nehmen. Damit handelt es sich um ein hochautomatisiertes Fahrzeug des Levels 3.
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Vollkommen unabhängige Autos erst 2050?
Bis zu einem komplett autonomen Fahrzeug wird es noch viel länger dauern. Zwar will BMW ebenfalls im Jahr 2021 Testfahrzeuge für Autos mit Autonomie-Levels 4 und 5 fertig haben. Bis es sie zu kaufen gibt, vergehen aber weitere Jahre. Die damit einhergehenden Sicherheitsfragen sind einfach zu komplex. EU-Verkehrskommissarin Violeta Bulc prognostiziert in einem Interview mit DIE WELT einen Marktstart nicht vor dem Jahr 2050.
Demgegenüber zeigen sich BMW-Mitarbeiter in Hintergrundgesprächen deutlich optimistischer. Denkbar ist demnach eine schrittweise Einführung. So könnten beispielsweise leichter von KI-Systemen beherrschbare Verkehrsbereiche wie Autobahnen früher für autonome Autos freigegeben werden, der unübersichtlichere Stadtverkehr aber erst später.
Probefahrt wie von Geisterhand
Wie eine Fahrt mit einem vollkommen automatisierten Auto des Levels 4 und 5 in Zukunft die Mobilität revolutionieren könnte, testete ich während einer Proberunde mit einem BMW 7er, der in den Jahren nach 2021 unter dem Namen BMW iNext in den Markt starten soll.
Über eine Smartphone-App rief ein Mitarbeiter das Fahrzeug, das mich in einer Leerfahrt abholte. Da ich beim Autonomie-Level 5 Fall keinen Einfluss mehr auf die Fahrt an sich nehmen muss, setzte ich mich auf die Rückbank und startete das Auto über einen Druck auf das Touch-Display des Bordentertainment-Systems. Die Zieladresse, in diesem Fall ein Stopp in 500 Metern Entfernung, hatte ein Mitarbeiter zuvor über Smartphone-App eingegeben. Der Fahrersitz blieb unbesetzt, das Lenkrad bewegte sich selbsttätig wie von Geisterhand.
Die Fahrt dauerte nur wenige Minuten. Dennoch war sie sehr aufschlussreich. Denn dieses Erlebnis war zwar ein wenig unheimlich, vor allem aber faszinierend. Schließlich finde die Vorstellung äußerst reizvoll, sich wie im Zug von A nach B chauffieren zu lassen – nur eben viel individueller – und dabei zu dösen, zu lesen oder zu arbeiten.
BMW-Testzentrum für autonomes Fahren setzt auf agiles Arbeiten für 1.800 Beschäftigte
Das neue BMW-Testzentrum für autonomes Fahren steht nicht nur für die Transformation des Konzerns vom traditionellen Autobauer zum Technologie-Unternehmen. Es reflektiert auch die veränderte Arbeitswelt. Auf 23.000 Quadratmetern Bürofläche werden bis zu 1.800 Beschäftigte schwerpunktmäßig auf agile Arbeitsmethoden setzen. Teilaufgaben in wechselnden Teams zu bewältigen, ist ein Kernaspekt dieser modernen, Scrum genannten Arbeitsweise. Ein offenes Raumkonzept, in dem Mitarbeiter und Führungskräfte auf den gleichen flexibel nutzbaren Flächen arbeiten, schafft die strukturellen Voraussetzungen dafür.
Der Autonomous Driving Campus liegt außerdem nah beim Forschungs- und Innovationszentrum von BMW in München. Die Beschäftigten beider Einrichtungen sollen auf diese Weise auch räumlich leicht zusammenarbeiten können. Denn auf dem Weg zum vollautomatisierten Fahrzeug ist menschliches Know-how der wichtigste Treibstoff.
Images by Berti Kolbow-Lehradt
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