Es lässt sich leicht in die Welt hinein rufen. Dass die Welt auch zurückruft, ist nicht selbstverständlich. Das Gesagte muss einen Sinn ergeben. Das leuchtet schnell ein. Aber im Internet erscheint der Sinn häufig außerhalb eines Gedankens zu stecken. In keinem anderen Medium werden Stimmungen so schnell und so kurzfristig angeheizt oder abgekühlt. In keinem anderen Medium werden Stimmungen zu einem Sinnersatz befördert. Die BILD-Zeitung hatte neulich die Griechen und Griechenland mit Stimmungen überzogen. Die Verwertung von Inhalten wurde in vielen Printmedien zu einer ganzen Salve von Stimmungen emporgehievt. Ohne die entsprechende Gegenkanonade aus dem Netz wäre sie sang- und klanglos versickert – mangels öffentlicher Relevanz. Sogar die Piraten haben sich quasi proaktiv instrumentalisieren lassen und dazu das Netz betätigt…
Es nützt wenig, über sinnstiftende Erzählungen zu sinnieren, wenn eine Diskussion der sinngebenden Werte ausbleibt. Europa ist in aller Munde. Aber im scheinbar grenzenlosen Web findet kein europäisches Projekt statt, dass Relevanz in den digitalen Diskussionen und Gremien aufweist. Der Ruf nach einem europäischen Medium, das den Sender arte transferieren könnte in eine Ära ohne öffentlich-rechtliche Freiräume, wie sie im Netz zu finden sein müssten, verhallt im leeren Raum. Warum auch? Eher das Gegenteil ist zu beobachten: Findige Vermarkter haben das Tagebuch sowie allerlei Persönliches als bedeutsamste Inhalte entdeckt und verkaufen sie an Schaltagenturen oder direkt an Firmen. Es geht eben nicht um Erzählungen die Sinn stiften für eine Öffentlichkeit sondern für eine begrenzte Gruppe von Bekannten und Freunden. Da finden keine großen Welten wie Europa statt. Da gibt es in vielen Fällen noch nicht einmal eine Reflexionsebene für den Austausch selbst. Es wird einfach so heruntergelebt. Direkt am Stück. Genauso wird auch erzählt. Timeline. Keine verwinkelten Zeitstrukturen. Keine Rückblenden. Keine gestalterischen Elemente, die den Autor verraten und seinen Hang zu einer Intention, die ihm oft selber nicht ganz klar ist. Kein Ringen um Sinn.
Es nützt nichts, seine Gedankenströme von Sozialen Medien in persönliche Blogs zu transferieren, wenn die grundlegende Kulturtechnik der Selbstvergewisserung im Erzählen selbst einen disruptiven Entwicklungsschub erlebt hat: Faktizität als Wirklichkeit. „Fakt ist,…“ ist die Formel, die aus den Talkshows in das Alltagsleben der Menschen eingesickert ist. Fortan besteht Identität nicht mehr aus einer persönlichen Setzung sondern aus dem faktisch Erlebten. Die digitalen Zeugnisse der arabischen Revolution und die Youtube-Videos von den iranischen Demonstrationen haben eine Form der Narration geformt, die wenig Platz für Tastendes lässt. Alles, was nicht sofort und auf den ersten Blick faktischen Realitätsbezug beanspruchen kann, wird ins Reich der ästhetischen Überformung verfrachtet und dort verfemt. Nur das vermeintlich direkte und aus dem Ärmel geschüttelte kann weiter bestehen. Life-Tracking und Quantified Self sind dabei die Spitze des Eisbergs.
Der Ruf nach Kreativen, der in der Beschwörungsformel der Verlegernetzwerke als Mantra verkauft wird, das in der lage ist, Metageschichten zu kreieren, die die Massen lenken, ist ein Rohrkrepierer. Denn auch dort ist mit Doku-Dramen, Doku-Soaps und spielerischen Formen Dokumentation längst das Faktische in das Fiktive eingebrochen und nicht umgekehrt.
Und auch im grenzenlosen Digitalien hören wird die Stimmen schon, die aus Furcht vor diesem oder jenem Internetgiganten die Gewehre strecken und in Duldungsstarre verfallen in Erwartung der furchtbaren Artillerie an Werbeplätze, die den Anzeigekunden um die Ohren gehauen wird im PayPerClick oder PayPerLead oder gar PayPerSale.
Dort hinter der schweren Artillerie zählt nichts als die reine Selbstdarstellung. Ein fluides Agens, dieses Selbst. Es wird spannend sein, wohin es sich in fünf Jahren wendet. Ob wieder so eine Welle über uns hereinbricht wie in den Achtzigern? Dann könnte es eben soviele Lebensberater geben wie jetzt Schönheitschirurgen, Fitnesstrainer und Ernährungsberater. Dann könnte es vorbei sein mit dem: Du bist, was du tust. Dann könnte es heißen: Du bist, was Du sein willst.
Und dann werden die Identitäten nicht im Faktischen gefunden sondern im Erzählerischen. Vielleicht wird dann sogar wieder an eine verbindende Geschichte gedacht. Denn Fakten sind nichts Anderes als Tatsachen, besser bekannt unter dem anderen Begriff des Sachverhalts. Keine besonders geeignete Substanz für Identitäten, wie jeder Jurist bestätigen kann.
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Schlagwörter: digital, Erzählen, Gesellschaft, Identität, Narrative, online