Knapp jeder fünfte Internetnutzer auf der Welt sitzt hinter dem weltweit größten und ausgeklügelten System für Netzzensur. Im Internet-Freiheits-Ranking der Nichtregierungsorganisation Freedom House belegt China dank massiver Anstrengungen, bestimmte Inhalte aus der Wahrnehmung der eigenen Bürger zu streichen, weltweit den letzten Platz. Aufgrund Chinas ökonomischer Stärke und dem ausgeprägten politischen Willen, neueste Technik zur Verhinderung von Protesten zu nutzen, ist das chinesische System zum – wie es beschönigt heißt – „sozialen Management“ durchaus bemerkenswert.
Vor allem seit den Aufständen des Arabischen Frühlings, bei denen Social Media durchaus eine wichtige Rolle spielte, ist die chinesische Führung aufgrund der potenziellen Macht digitaler Kanäle besorgt. Hinzu kommt ein schwach ausgeprägtes Bewusstsein für Menschenrechte im Land, sodass die Zensurhürden für das Regime vor allem technischer Natur sind. Schon die Enthüllungen von Edward Snowden zeigten, dass selbst in liberalen Demokratien eine umfassende Überwachung möglich ist – und der öffentliche Aufschrei und die politischen Konsequenzen sich in Grenzen halten.
The Great Firewall of China
Selbst unternehmerische Riesen wie Google kommen nicht gegen die Macht des chinesischen Regimes an, das bereits wenige Monate nach dem Start des Internet im Land mit dem Blockieren von Websites begonnen hat. Schon 1997 prägte das Magazin Wired einen plakativen Begriff für die chinesischen Zensurmaßnahmen im Netz: „The Great Firewall of China“ – in Anlehnung an die bekannteste Sehenswürdigkeit des Landes. Das heutige System existiert in seiner Form jedoch erst seit Anfang der 2000er und setzt sich auch verschiedenen Komponenten zusammen. Die Blockade von unerwünschten Webseiten ist ein Standbein chinesischer Zensurbemühungen: von den 1.000 meistbesuchten Internetseiten der Welt werden laut der Nonprofit-Organisation Greatfire.org 176 in China blockiert. 15 der 18 global operierenden Nachrichtenseiten sind ebenfalls nicht zugänglich.
Dasselbe Bild ergibt sich bei sozialen Netzwerken. Von den 15 Diensten mit der weltweit größten Nutzerbasis werden sieben blockiert – davon profitiert natürlich vor allem die chinesische Internetindustrie. Fünf dieser acht nicht gesperrten Social Media-Anbieter stammen aus China. Prinzipiell hat man in China als Social Media-Anbieter nur zwei Möglichkeiten: sich aus dem aufgrund seiner Größe attraktiven Markt zurückziehen oder im Sinne des Regimes für das Verschwinden unerwünschter Inhalte sorgen.
Allerdings lässt sich die „Great Firewall“, die auch die Blockade bestimmter Ausdrücke wie „Tiananmen“ bzw. „June 4“ (Keyword Blocking) beinhaltet, durchaus mithilfe von VPN-Diensten oder schlicht der Nutzung anderer Ausdrücke für geächtete Begriffe umgehen. In keinem anderen Land der Welt gibt es so viele VPN-Nutzer wie in China. Zwar werden auch diese regelmäßig blockiert, jedoch lässt die chinesische Regierung auch Freiräume zu. Darüber hinaus gibt es für sämtliche amerikanische Social Media-Dienste chinesische Pendants, auf denen die Bürgerinnen und Bürger weitgehend unbeeinflusst von der Blacklist der Behörden kommunizieren können. Der Einfluss der „Great Firewall“ auf die öffentliche Meinungsäußerung ist laut Forschern entsprechend gering. Hierfür hat das chinesische Regime ein deutlich effektiveres System entwickelt.
Kritik zulassen, Proteste verhindern
Interessanterweise fand die Sperrung großer sozialer Netzwerke oft nach aufsehenerregenden Aufständen statt: YouTube im Nachgang der Proteste in Tibet, Facebook und Twitter nach den Unruhen in Xinjiang. Hinter diesem Vorgehen der chinesischen Regierung steckt ein größerer Zusammenhang: denn letztlich dürfte die größte Angst des kommunistischen Regimes darin liegen, dass sich Menschen im Internet organisieren und es dadurch zu Protesten kommt. Die entsprechende Handlungsmaxime: solche „kollektiven Handlungen“ („collective action“, wie es in der Forschung heißt) sollen um jeden Preis verhindert werden. Hierfür hat der Staat ein aufwändiges System der Nachzensur kreiert, das beinahe mit militärischer Präzision funktioniert. Der Großteil der Nachzensur erfolgt innerhalb von nur 24 Stunden, die das Potenzial zu „kollektiven Handlungen“ haben. Vor allem die Betreiber sozialer Netzwerke sind hier in der Pflicht: beim chinesischen Twitter-Pendant Weibo sind laut Berichten 150 Mitarbeiter in Zwölf-Stunden-Schichten für die Zensur verantwortlich.
In einer bahnbrechenden Studie gelang es Forschern der Harvard University vor einigen Jahren den weitverbreiteten Irrglauben zu widerlegen, dass das Zensieren regimekritischer Stimmen das oberste Ziel sei. Gary King, Jennifer Pan und Margarete Roberts fanden mithilfe einer umfangreichen Vorher-Nachher-Analyse chinesischer Social Media-Posts heraus, dass sich die Zensur positiver und negativer Kommentare zum Regime über alle untersuchten Themen hinweg die Waage hält. Bei heiklen Sachverhalten wird im Schnitt gerade mal jeder vierte Post zensiert, über alle Themen hinweg 13 Prozent. Solche Themen allerdings, die potenziell zum Zusammenschluss von Menschen führen könnten, kommen auf eine 60-prozentige Zensurquote – egal ob Pro oder Contra. Vor allem nach bestimmten Ereignissen wie der Verhaftung des Dissidenten Ai Weiwei schießen die Zensurmaßnahmen entsprechend der höheren öffentlichen Aufmerksamkeit in die Höhe. Die Schlussfolgerung: schlecht auszusehen scheint für das Regime nicht schlimm zu sein, solange man kollektives Handeln unterbinden kann.
Gezielte Ablenkung
Einen weiteren Beweis dafür, dass das chinesische Regime die Mechanismen des Internet verstanden hat, ist eine erst kürzlich erschienene Studie, ebenfalls durchgeführt vom Harvard-Dreigespann rund um Gary King. Ein weiteres Standbein der Verhinderung kollektiver Handlungen ist das Prinzip der systematischen Ablenkung. Lange wurde die sogenannte „50c-Party“ verdächtigt, gegen Bezahlung (50 Cent pro Post) positive Kommentare über das Regime zu verfassen – dafür gab es jedoch keine Beweise, weshalb vor allem Gerüchte die Berichterstattung dominierten.
Die Harvard-Forscher analysierten vor kurzem einen umfangreichen Leak aus dem Büro für Internetpropaganda, wobei sich zwei Umstände offenbarten. Erstens, die „50c-Party“ existiert und besteht hauptsächlich aus Regierungsmitarbeitern. Zweitens, das Verfassen der geschätzt 448 Millionen Posts jährlich hat nicht das Ziel, gegen skeptische Stimmen zu argumentieren, sondern für Ablenkung zu sorgen. Das einfache Ziel: die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf andere Themen lenken und bloß nicht die Narrative aus der Hand geben. Hier schließt sich auch wieder der Kreis zur Zensur: solche Kommentare häufen sich ebenfalls nach Ereignissen, die Potenzial für „collective action“ haben.
Zuletzt darf man die Wirkung der Selbstzensur nicht unterschätzen. Social Media-Dienste müssen von ihren Nutzern Realnamen und die persönliche ID verlangen, die dann mit den Datenbanken der Behörden abgeglichen werden. Das Verbreiten von Gerüchten wird beispielsweise drakonisch bestraft, Aktivisten werden für ihre Handlungen verhaftet, Webseiten werden von Hackern angegriffen. Solche Maßnahmen führen natürlich dazu, dass Menschen sich auf Social Media-Kanälen eher zurückhalten.
Image (adapted) „Zensur“ by stevepb (CC0 Public Domain)
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