Hat Cyberpunk 2077 neue Maßstäbe in Sachen Open World gesetzt? Ganz sicher nicht – dafür ist die Open World zu sehr eine Kulisse, mit der man wenig interagieren kann. Als solche Kulisse ist Night City allerdings ein Geniestreich. Doch woran das liegt? Für mich vor allem daran, dass Night City richtig schlechtes Stadtdesign ist.
Das klingt zunächst wohl etwas seltsam, doch der Wahnsinn hat tatsächlich System. Denn wo die Konkurrenz ihre Städte bewusst auf Bequemlichkeit für den Spieler designt, macht es Night City einem bewusst schwer von A nach B zu gelangen.
In diesem kleinen Artikel möchte ich eine Spielwelt feiern, die ihre größte Stärke aus den vermeintlichen Schwächen zieht.
Night City zugänglicher als gedacht?
Night City ist wirklich kein schöner Ort zum Leben. Regiert wird die Stadt mehr von den großen Unternehmen und die meisten Bewohner sind in deren Hamsterrädern gefangen. Edgerunner tauschen dieses Leben trotz deutlich verringerter Lebenserwartung für ein Stück Freiheit ein.
Das Stadtdesign selbst muss für seine Bewohner aber nicht ganz so schlimm sein. Für den Durchschnittsbürger gilt der öffentliche Personennahverkehr nämlich als schnelle, günstige und einfache Art durch Night City zu reisen. Die Stadt ist also in erster Linie schlecht für Autos und hebt sich darum stark von den meisten Spielestädten ab, die eher dem autozentrischen Vorbild der meisten amerikanischen Städte folgen.
Europäische Städte folgen auch weniger einem strengen Raster, doch vor allem Tokio hat mir gezeigt, das Städte dem Autofahrer manchmal wehtun müssen. Hohe Autobahn-Maut, ein verwinkeltes Straßennetz und fehlende Parkplätze an der Straße tragen dazu bei, dass das herausragende Bahn-Netz der Stadt von der Bevölkerung bevorzugt wird. Entsprechend ist die Alltagsinfrastruktur auch stark um die Bahnstationen als Zentren gewachsen. Und es funktioniert einfach.
Night City ist eine Katastrophe für Autofahrer – und eine Freude zum Erkunden
Eine Sache haben viele befahrbare Open Worlds gemein: Sie sind darauf ausgelegt mit dem Auto befahren zu werden. Entsprechend gibt es meist auch sehr einfach aufgebaute Städte. In vielen Fällen liegt es schlicht am Vorbild echter amerikanischer Städte. Zum Teil ist es aber auch Spieldesign: Möglichst einfach von A nach B kommen und Frust vermeiden.
In Cyberpunk 2077 ist Night City aber die wahre Katastrophe für Autofahrer und ich liebe es. Habt ihr mal versucht ein Ziel ohne GPS-Route zu erreichen? Der vermeintliche Weg geradeaus führt schnell mal plötzlich in eine völlig andere Richtung. Hinzu kommen teils absurde Winkel beim Abbiegen und teils sehr eng aneinander liegende Ampeln an wichtigen Hauptstraßen. Als Cities Skylines-Veteran weiß ich, wie wichtig es ist, den Verkehrsfluss auf Hauptstraßen so selten wie möglich durch Kreuzungen zu unterbrechen. Gerade dieses laienhafte Verständnis für Verkehrsplanung macht Night City umso spaßiger für mich.
Ich nutze trotzdem gern das Auto, gerade weil die Straßen nicht einfach nur ein stumpfes Schachbrettmuster bilden. Und die Mapdesigner haben sich das auch zu Nutzen gemacht, um den Fußgänger zu belohnen. Es gibt so viele tolle Bereiche in Night City, die man nur als Fußgänger entdeckt. Verwinkelte Gassen, Marktplätze, Tunnel, Treppen, Fußgängerbrücken. Auch das erinnert mich ein bisschen an Tokio, wo es als Fußgänger mehr individuelle Erkundungsreize gibt, als man beim Blick von oben zunächst vermutet. Manche Orte entdeckt man erst, wenn man eben nicht mit dem Auto unterwegs ist.
Cyberpunk 2077 hat mit Städteplanern an Night City gearbeitet.
Trotz des vermeintlichen Chaos hat CD Projekt RED bei der Erschaffung von Night City mit echten Städteplanern gearbeitet. Das betrifft die grobe Planung, wo etwa Hafen- oder Industriegebiete Sinn ergeben, aber auch konkrete Details für Brücken und Highways.
Dass Night City trotzdem so chaotisch ist, liegt auch daran, dass die Stadt sich historisch gewandelt hat. Entropism, Kitsch, Neo-Militarism, und Neo-Kitsch sind eigentlich die vier Stilrichtungen, mit denen Cyberpunk 2077 zu Release die Kleidung beworben hat. Diese vier Stile sind aber auch präsent im Stadtdesign. Sie zeigen sowohl den unterschiedlichen Lebensstandard, sind aber zugleich auch Design-Trends, die über die Historie auch das Stadtbild verändert haben.
Dazu kommt natürlich, dass das dystopische Setting eine Welt zeichnet, die mehr von privaten Unternehmen regiert wird als tatsächlich von öffentlichen Organen. Wenn diese Unternehmen etwas bauen wollen wird mal eine neue Straße hinzugefügt oder bestehende Infrastruktur entfernt. Auch das ist ein Grund, warum eine ganzheitlich geplante Stadt wenig Sinn ergibt. In Night City wurde schon viel abgerissen, neu gebaut und Lücken mehr oder weniger sinnvoll gefüllt.
Nachgereichte U-Bahn
Umso mehr ist es ein Jammer, dass die Bahnen aus den ursprünglichen Plänen des Spiels gestrichen wurden. Sie sind eigentlich essentiell für diese Art von Stadt und hätten einige weitere spannende Orte zum Erkunden sein können. Im Update 2.1 wurden sie überraschend dann doch noch nachgereicht, obwohl es eigentlich keine Inhalts-Updates mehr geben sollte.
Atmosphärisch machen sie auch schon einiges her, vor allem da es auch ein paar Alltagssituationen während der Fahrt zu beobachten gibt. Was mir in der Umsetzung fehlt, sind richtig begehbare Stationen, um zu den NCART-Bahnen zu gelangen. Stattdessen geht man nur zum Stationseingang und landet von dort direkt in der Bahn.
Allein eine Station zu haben, die über ein unterirdisches Labyrinth mit drölfzig Ausgängen verfügt hätte mich riesig gefreut. Was eine solche Station ausstrahlt durfte ich bereits in Tokyo erleben und Persona 5 Royal hat die Shinjuku-Station beispielsweise gut umgesetzt, ohne sie bis ins letzte Detail begehbar zu machen. Aber für die Art der Maps von Cyberpunk und die Anzahl Stationen wäre der Mapping-Aufwand zugegeben unverhältnismäßig gewesen. Einige neue Zugänge hätte man außerdem auch noch unterbringen müssen.
Für den Nachfolger wünsche ich mir trotzdem, dass neben einer allgemein größeren Begehbarkeit von Gebäuden auch noch solche Orte wie eben die NCART-Stationen begehbar sind. Hier schlägt der Puls einer solchen Stadt und ich kann mir viele Szenarien vorstellen, in denen sie auch mit in Quests eingebunden werden.
Organische Städte machen einfach mehr Spaß
Mir selbst machen Städte einfach mehr Spaß, wenn sie nicht nur nach einem Schema gebaut sind. Auch die GTA-Maps sind jetzt nicht nur langweilig, sondern organisch gewachsen. Liberty City in GTA IV brach das Design durch die Inseln auf und auch Los Santos hat durch die Hills, die Kanäle, verschiedene Distrikte und die High Ways genug Abwechslung. Trotzdem nimmt Night City für mich nochmal eine andere Rolle ein, weil sie den Entdecker in mir mehr kitzelt.
Ich liebe auch organisches Design bei Städten in Rollenspielen. Oft wirken die Städte dort leider aber sehr platt, eher klein und einfach nicht natürlich. Mich konnte auch Whiterun / Weißwasserlauf in Skyrim nie so begeistern wie viele andere Spieler. Es versucht zwar durchaus mit dem Gelände zu spielen, aber auf mich hat es nur die Strahlkraft eines eher beliebigen befestigten Dorfes.
Novigrad in The Witcher 3 ist für mich dagegen eine Vorzeige Fantasy-Stadt, die für mich sowohl optisch, als auch im Kontext der Welt glaubhaft ist. Sie ergibt Sinn und atmet Leben. Im MMO-Bereich ist es für mich Black Desert Online, wo die große Stadt Calpheon, aber auch viele andere Orte neue Standards im MMO-Genre gesetzt haben. Die Städte sind nicht nur herrlich in die Geographie eingearbeitet, sondern sind auch vollgepackt mit Details und unzähligen unterschiedlich agierenden NSCs, die Leben einhauchen. Dass ein 5 Jahre später erschienenes New World sehr austauschbare und unbelebte Dörfer hat ist dagegen ein echtes Trauerspiel.
Gespannt bin ich allerdings auf GTA 6. Nachdem Red Dead Redemption 2 neue Maßstäbe für offene Welten an sich gesetzt hat, könnte der neue GTA-Teil Night City in Sachen Open World-Städte gehörig Konkurrenz machen. GTA 5 liegt schon 10 Jahre zurück und zählt noch immer zu den glaubhaftesten Spielkulissen. Florida wird aber wohl eher Städte zu Gunsten der Autofahrer bieten.
Screenshots by Stefan Reismann
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